Der Gedicht-Thread


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Post 02.09.2004 23:25 Post
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Arbrandir
Schuft


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Geehrte Ausleger,

je länger ich mich in diesem Thread 'rumtreibe, desto heftiger drängt sich mir die Idee auf, ein Lyrikseminar mal ausschließlich online zu veranstalten... Wirklich klasse!

Mag sein, daß meine SAM (Septemberanfangsmelancholie) mir gerade ein bißchen den Blick trübt. Mag auch sein, daß ich immer schon beinahe alles von Rilke als von Abschiedsschmerz durchtränkt wahrgenommen habe (was ja auch durchaus in der Tradition der deutschen Romantiker steht). "Abendkinder" ruft bei mir ein Gefühl der Heimatlosigkeit und der Wehmut hervor.

Zwar sagt das lyrische Ich, daß es die leisen blassen Stunden liebt. Aber das wird dem Bild der Kinder gegenübergestellt, die keine Zuflucht, keine Heimat hinter den "schwarzen Türen" finden. Diese Türen sind verschlossen, und hinter ihnen wartet kein warmes, einladendes Licht, zu dem sie nach den Abenteuern des Tages heimkehren können. Verloren und ganz auf sich gestellt fassen sie sich bei den Händen, um wenigstens ineinander und in dieser Berührung Trost und Zuversicht zu finden. Der Ruf, den sie spüren, ist der einer unvertrauten und unwägbaren Natur/Wildnis. Wenn ich mir die Gesichter dieser "Gassenkinder" vorstelle, sehe ich kein tollkühnes Aufblitzen kindlichen Wagemuts, sondern die Schatten von Verlorenheit (abgewiesen stehen sie vor verschlossenen, schwarzen Türen) und Ungewißheit. "Leise", "blaß" und "schwarz" sind Adjektive, die nicht eben hoffnungsvolle oder von Aufbruchs- und Erkundungselan geladene Stimmung verbreiten. "Heimlich" fassen sie sich bei den Händen, als sei selbst diese Bezeugung menschlichen (Mit-) Gefühls in der sie umgebenden Welt unerwünscht, gar sanktioniert.

Der Abend bedeutet für sie nicht glückliche Heimkehr in warme Geborgenheit, sondern das ziellose Wandern in eine unbekannte Nacht, in der sie nur einander haben, um die tiefe Einsamkeit zu lindern.

Das perfekte Gegenstück zu diesem Gedicht ist für mich Trakls "Ein Winterabend":

Wenn der Schnee ans Fenster fällt,
Lang die Abendglocke läutet,
Vielen ist der Tisch bereitet
Und das Haus ist wohlbestellt.

Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft.

Wanderer tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein.




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Post 02.09.2004 23:52 Post
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lenaluna



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Wobei Trakls Gedicht ja im Positiven, also im Hellen und Warmen endet, indem er den Wanderer mit einem Stück konkreter Heimat tröstet:

Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein.


Während Rilke den Leser lieber in ein finsteres Gedankengebirge schickt, das dann doch eher Schauder hervorruft.

fort von den schwarzen Türen,
die nicht ihre Heimat sind.


Also schon ganz schön diametral zueinander, die beiden... *nurmalsodazwischenwerf*

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Post 03.09.2004 00:00 Post
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Arbrandir
Schuft


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Beiträge: 866
Exakt, geehrte lenaluna. Deswegen empfinde ich das Trakl-Gedicht ja als das perfekte "Gegen"stück zum Rilketext. Warme, abendliche Gastfreundschaft vs. Heimatlosigkeit.

Was machen die Winter's Tale-Versandneuigkeiten??



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Post 03.09.2004 00:29 Post
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lenaluna



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Zitat:
Arbrandir brummelte:
Exakt, geehrte lenaluna. Deswegen empfinde ich das Trakl-Gedicht ja als das perfekte "Gegen"stück zum Rilketext. Warme, abendliche Gastfreundschaft vs. Heimatlosigkeit.

Hm, meinst Du jetzt Gegen"stück" oder Gegen"teil"? Irgendwie bin ich gerade verwirrt *denrotenfadensuchengeh:ARIAAAAADNE*

Äh, auf die winterlichen Vergnügungen muss man glaube ich noch etwas warten *wart*


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Post 08.09.2004 22:10 Post
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Vikelb



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Ich suche zur Zeit ein Gedicht, dass ich mal sehr gerne mochte. Ich hatte es vergessen, wurde jedoch durch ein wunderbares Projekt in unserer Stadt daran erinnert: Seit kurzem werden naemlich Werbewaende mit Lyric verschoenert. Als ich eben auf so einer Plakatwand "Septembermorgen" von Moerike las kam es mir das Vergessene wieder in den Sinn:

Ich war mir relativ sicher, dass es von Rilke geschrieben wurde (aus unerklaerlichen Gruenden dachte ich daher, Arbrandir koennte mir evtl. helfen ) , aber eben nicht absolut. Denn finden kann ich es auch nicht mehr. Weder im Internet, noch in meinen Gedichtbaenden. Also war er es vielleicht doch nicht. *wirr*
Es ist ein Herbstgedicht, handelt von fallenden Blaettern und einem Schmetterling. Die Parallele, wie auch er bald fallen wird und den Herbst nicht mehr ueberlebt.

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Post 09.09.2004 18:32 Post
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Celebrian



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Vielleicht dieses von Hesse? Kommt aber kein Schmetterling drin vor...


Jede Blüte will zur Frucht,
jeder Morgen Abend werden.
Ewiges ist nicht auf Erden
als der Wechsel, als die Flucht.

Auch der schönste Sommer will
einmal Herbst und Welke spüren.
Halte, Blatt, geduldig still,
wenn der Wind dich will entführen.

Spiel dein Spiel und wehr dich nicht,
laß es still geschehen,
laß vom Winde, der dich bricht,
dich nach Hause wehen.


__________________
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
"Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt."
L. Wittgenstein

"Day 200075:
Council very boring. Got to say "DOOM" a few times in v. dramatic voice."
(The very secret diary of Lord Elrond)

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Post 09.09.2004 20:18 Post
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Arbrandir
Schuft


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Registriert: Mar 2004
Beiträge: 866
Zitat:
Vikelb schrieb:
Ich war mir relativ sicher, dass es von Rilke geschrieben wurde (aus unerklaerlichen Gruenden dachte ich daher, Arbrandir koennte mir evtl. helfen )


Hm, das berühmteste Rilke-Herbstgedicht ist wohl dieses:

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.



Einen rilkeschen Schmetterling habe ich hier gefunden:

Wie eine Riesenwunderblume prangt
voll Duft die Welt, an deren Blütenspelze,
ein Schmetterling mit blauem Schwingenschmelze,
die Mainacht hangt.

Nichts regt sich; nur der Silberfühler blinkt
Dann trägt sein Flügel ihn, sein frühverblaßter,
nach Morgen, wo aus feuerroter Aster
er Sterben trinkt ...



Einen Schmetterling und Herbst hat Theodor Storm zu bieten:

Wie bald des Sommers holdes Fest verging!
Rauh weht der Herbst; wird's denn auch Frühling wieder?

Da fällt ein bleicher Sonnenstrahl hernieder -
Komm, laß uns spielen, weißer Schmetterling!

Ach, keine Nelke, keine Rose mehr;
Am Himmel fährt ein kalt Gewölk daher!

Weh, wie so bald des Sommers Lust verging -
O komm! Wo bist du, weißer Schmetterling?



Irgendwas dabei?




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Post 09.09.2004 22:40 Post
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Kaylee



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Beiträge: 4029
Der Rilke'sche Schmetterling passt doch, wenn mich mein Kreuzworträtselwissen nicht im Stich lässt und Astern Herbstblumen sind…?!

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Post 09.09.2004 22:59 Post
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Arbrandir
Schuft


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Beiträge: 866
Je nun, er flattert aber nicht durch blätterflugerfüllte Herbstlüfte, sondern in einer lauen Maiennacht, tut er nicht?



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Post 09.09.2004 23:35 Post
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lenaluna



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Beiträge: 134
Zitat:
Arbrandir hypothetisierte wagemutig:
Je nun, er flattert aber nicht durch blätterflugerfüllte Herbstlüfte, sondern in einer lauen Maiennacht, tut er nicht?

Nö, tut er nicht... warum sollte er denn im Mai aus einer Blüte Sterben trinken - da geht es doch mit dem Gaukeln und Sausen, dem Tollen und Taumeln erst so richtig los? Und feuerrote Astern - das erinnert mich dann doch an spätsommerliche Tage, Vorboten des sich nahenden Herbstes...

*michaufKayleesSeitestell*

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