30.05.2004 23:44
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Arbrandir
Schuft
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Zitat: TillDurden schrieb:
wieso legen wir solchen Wert auf die Person und Intention des Künstlers?
Wenn Du die Frage beantwortest, gewinnst Du die Million ...
Nein, im Ernst: Auf die Figur des Autors zu schauen und dem Werk erst durch die Verbindung zu einem bestimmten Namen und der Biographie Rang und Bedeutung (im wahrsten Sinne) zuzusprechen, ist eine ganz alte Krankheit, die auch Blüten wie die berüchtigte auteur theory (Bereich Filmgeschichte / -theorie) hervorgebracht hat.
Umso faszinierender doch das Ratespiel um Figuren wie den blinden Rhapsoden aus Kleinasien und den Schwan von Stratford.
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31.05.2004 15:29
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Celebrian
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Zitat: Arbrandir schrieb:
Nein, im Ernst: Auf die Figur des Autors zu schauen und dem Werk erst durch die Verbindung zu einem bestimmten Namen und der Biographie Rang und Bedeutung (im wahrsten Sinne) zuzusprechen, ist eine ganz alte Krankheit, die auch Blüten wie die berüchtigte auteur theory (Bereich Filmgeschichte / -theorie) hervorgebracht hat.
Und eine Zeitkrankheit ist es, diese alte Krankheit komplett zu verteufeln, ein klassischer Fall von geistigem Vatermord unter Literaturtheoretikern. Mir kommt immer das kalte Grausen, wenn irgendwelche doofen Didaktikdozentinnen im Vollgefühl der absoluten geistigen Überlegenheit und des Auf-der-Höhe-der-Zeit-Seins in blasiert-angeekeltem Tonfall verkünden, kein Mensch frage mehr nach der Autorenintention. Hier paßt wieder mal J.R.R.Tolkiens wunderbares Schlagwort vom Provinzialismus des Zeitgemäßen. Natürlich darf die Frage nach der Autorenintention keine Religion sein, und natürlich ist damit Schindluder getrieben worden, das gilt aber für alle anderen Literaturtheorien ebenso. Was zählt, ist der Text. Die Theorien müssen dem Text dienen, nicht umgekehrt, wie es leider manch Prof praktiziert.
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"Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt."
L. Wittgenstein
"Day 200075:
Council very boring. Got to say "DOOM" a few times in v. dramatic voice."
(The very secret diary of Lord Elrond)
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31.05.2004 22:35
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Alex.
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Wenn ich das so lese, bin ich froh, nicht Literatur studiert zu haben, sondern Prosa und Lyrik als ganz naiver "Leser" genießen zu können. 
Die Shakespeare-Autorschafts-Debatte finde ich nicht mehr besonders faszinierend, nachdem ich mich vor einiger Zeit mal intensiver damit befaßt habe. Die Oxford-Hypothese lahmt auf sämtlichen Beinen und ihre Vertreter zeichnen sich vor allem dadurch aus, daß die den historical record zu verzerren oder zu fälschen versuchen. Aber als Feierabendlektüre manchmal ganz amüsant.
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05.06.2004 22:20
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Celebrian
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Ich nehme an, es geht nicht nur mir so:
Es gibt Gedichte, die erschließen sich beim ersten, zweiten oder auch fünfzehnten Lesen von selbst - nicht komplett vielleicht oder auch mit mehreren Deutungsmöglichkeiten, aber doch so weitgehend, daß man ohne ungelösten Rest genießen kann.
Dann gibt es welche, die man nicht wirklich "versteht", die aber am schönsten sind, wenn man sie einfach nur wirken läßt, ohne alle Interpretationsversuche (z.B. Celan - bei dessen Sekundärliteraten gibt es die zuweilen entnervende Neigung, alles entweder auf seine Beziehung zu seiner Mutter oder auf den Holocaust hin aufzudröseln, das engt ziemlich ein und kann einem einiges sogar kaputtmachen).
Und es gibt solche Gedichte, die ein bißchen Knobelei verlangen und im daraus resultierenden Verständnis erst richtig schön werden - dazu gehört, denke ich, das Untenstehende. Ich kenne es schon ein Weilchen, habe es mir aber noch nicht wirklich zum "Knobeln" vorgenommen. Es ist ein Gedicht von Durs Grünbein (geb. 1962) über Dichtung, und die Grundbotschaft scheint mir relativ deutlich in den letzten zwei Zeilen zu liegen (meine DAF-Sig). Davor jedoch ist so einiges verrätselt bzw. bedarf eines Nachschlagewerkes oder genauer Kenntnis der deutschen Lyriklandschaft der (*grusel*) Nachkriegszeit... *im19.Jahrhunderthängengebliebensei*
Vielleicht mag ja jemand miträtseln?
Erklärte Nacht
Oder Dichtung, was war das noch? Entführung in alte Gefühle...
Stimmenfang, Silbenzauber, ars magna im elaboriertesten Stil.
Die Kälte der Selbstbegegnung, ein Tanz zwischen sämtlichen Stühlen.
Nichts Halbes, nichts Ganzes also, doch das gewisse Etwas zuviel.
Dem einen Gebet ohne Gott, dem andern das "Echt Absolut Reelle".
Jene Zickzacknaht - Vernunft, an Affekte und Mythen gebunden,
Die den schläfrigen Leib präpariert mit empfindsamen Stellen.
Rückkehr des Echos zur Quelle, zum Mund, wo Laute sich runden.
Atembild, hingehaucht in die Frostluft, ins taufrische nihil.
Magisches Gängelband, Ariadnefaden durchs Dunkel der Aporien,
Kette aus Glücksmomenten bis zurück zu den Mädchenbädern am Nil.
Innigste Linie, nie in Zahlen zu fassen, entflieht sie den Geometrien,
Seit die Welt als beschreibbar gilt, in Formeln auflösbar, in Gesetze.
Vergeßt dieses schamlose Ich und sein Du, herbeigeholt aus der Ferne.
Der Vers ist ein Taucher, er zieht in die Tiefe, sucht nach den Schätzen
Am Meeresgrund, draußen im Hirn. Er konspiriert mit den Sternen.
Metaphern sind diese flachen Steine, die man aufs offene Meer
Schleudert vom Ufer aus. Die trippelnd die Wasserfläche berühren,
Drei, vier, fünf, sechs Mal im Glücksfall, bevor sie bleischwer
Den Spiegel durchbrechen als Lot. Risse, die durch die Zeiten führen.
Philosophie in Metren, Musik der Freudesprünge von Wort zu Ding.
Geschenkt, sagt der eine, der andre: vom Scharfsinn gemacht.
Was bleibt, sind Gedichte. Lieder, wie sie die Sterblichkeit singt.
Ein Reiseführer, der beste, beim Exodus aus der menschlichen Nacht.
Bei "der Vers ist ein Taucher" muß ich immer an Cain denken: er hat irgendwann mal den Leser mit einem Taucher verglichen, der entweder brav an der Oberfläche des Textes dahinschwimmen oder am Boden im Schlamm herumwühlen kann.
Schön auch die folgenden Zeilen: die Erscheinung der Metapher wird durch eine Metapher beschrieben... *g*
Der Titel ist als Anspielung auf "Verklärte Nacht" zu verstehen, ein Gedicht von Richard Dehmel, das nur dank der Sextettisierung durch Arnold Schönberg heute noch weithin bekannt ist. Beides, Text und Musik, steht für das Lebensgefühl um 1900 - Grünbeins Gedicht ist ziemlich genau um die nächste Jahrhundertwende entstanden (2002 erschienen). Er nimmt sozusagen die Verklärung (ein Topos um 1900) zurück in eine Erklärung, ähnlich vielleicht, wie Adrian Leverkühn Beethovens 9. Symphonie "zurücknimmt" aus Schmerz und Desillusionierung (in Th. Manns "Dr. Faustus"); ebenso wie die Apotheose ist auch die Verklärung im 20./21. Jahrhundert untauglich geworden.
Mir scheint, in manchen kurzen Formulierungen des Gedichts sind ganze Welten verborgen, so zum Beispiel in Vers 21:
Musik der Freudesprünge von Wort zu Ding.
Da klingt das große Thema des Benennens an, die menschliche Eigenart, Wort und Ding zu verbinden, die Dinge zu benennen und dadurch erst in eine Beziehung zu ihnen zu treten, sie zu lieben - es sind nicht von ungefähr Sprünge der Freude. In diesen wenigen Worten reichen sich die Philosophie mit Platons Ideenlehre, die Literatur mit "Die Unendliche Geschichte" sowie die Psychologie mit dem Stadium der Symbolbildung die Hände (uff, war das nun Freud oder Lacan? Oder beide?), und das ganz mühelos, ohne theoretisches Gefasel oder gewaltsame Abstraktion.
Die Schlußzeilen: das letzte Wort des Gedichtes steckt auch im Titel - "Nacht". Sie ist laut Titel "erklärt", sozusagen "für vorhanden erklärt", sie ist also da. (Dieses "erklärt" dürfte so zu verstehen sein, wie man eine Sitzung für eröffnet erklärt; es im Sinne von "erörtert" zu begreifen, funktioniert meines Erachtens nicht, denn was "erörtert" wird, ist die Dichtung - und die soll ja gerade aus der Nacht hinausführen.) Die menschliche Nacht ist da - was bedeutet sie? Das Böse im Menschen, den unaufgeklärten Menschen (Nacht # Aufklärung/Aufhellung)?
Jedenfalls ist die Menschheit auf dem ständigen Auszug aus der Nacht wie Moses aus Ägypten. Und auf diesem Exodus ist ein Reiseführer vonnöten, ein Wegweiser, und einen solchen - sogar den besten, behauptet Grünbein - bieten Gedichte. Aber können Gedichte herausführen aus dem Bösen, aus der Unaufgeklärtheit? Ich neige dazu, das zu bejahen (jaaa, ich bin Idealistin), aber natürlich könnte mit der menschlichen Nacht auch etwas anderes gemeint sein, nämlich Trauer, Schmerz und Verzweiflung, sozusagen die ganz persönliche Nacht des Einzelnen, aus der Gedichte herausführen können. Vielleicht spielt auch beides ineinander.
[Dieser Beitrag wurde von Celebrian am 05.06.2004 um 22:20 editiert]
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"Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt."
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"Day 200075:
Council very boring. Got to say "DOOM" a few times in v. dramatic voice."
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06.06.2004 01:22
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Arbrandir
Schuft
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Zitat: die geehrte Galadrielstochter schrieb:
Und eine Zeitkrankheit ist es, diese alte Krankheit komplett zu verteufeln, ein klassischer Fall von geistigem Vatermord unter Literaturtheoretikern.
Vergiß nicht den Muttermord! Das walte Marie v. E.-E. und A. D.-H.! *gg*
Tja, ich bin ein geistiger Ziehsohn solcher Elternmörder wie Roland Barthes und Stuart Hall. Aber auch sie haben dafür gesorgt, daß endlich wieder das in den Vordergrund trat, was auch Du für entscheidend hältst:
Was zählt, ist der Text.
Der Grünbein: herrliches Prosagedicht, so richtig zum Drinwühlen, Damitrummachen, Darinverlieren. Ganz ohne auktoriale (Biographie-) Info .
Eines der wiederkehrenden Bilder befaßt sich mit dem Spannungsfeld zwischen "normierter Regelmäßigkeit" und der Freiheit der Worte / Klänge / Assoziationen.
Dem einen Gebet ohne Gott, dem andern das "Echt Absolut Reelle".
...
Innigste Linie, nie in Zahlen zu fassen, entflieht sie den Geometrien,
Seit die Welt als beschreibbar gilt, in Formeln auflösbar, in Gesetze.
...
Philosophie in Metren ...
Ich weiß nicht, bei welchem großen Geist ich gerade klaue, irgendjemand hat dazu nämlich mal eine schlaue Betrachtung geschrieben --- Die wilde Freiheit poetischer Bilder, die (klassischerweise) in die engen Grenzen gebundener Sprache gefaßt wird, dieses Muster findet sein Pendant in der Verbundenheit von Musik und Mathematik: beide beruhen auf den Gesetzen der (Dis-)Harmonie, und somit auf dem Prinzip der (dynamischen) Balance. Wir neigen heutzutage dazu, diese beiden Manifestationen als einander entgegengesetzte Pole zu begreifen. Daß diese Pole (wieder dem Gesetz der Balance/Harmonie gehorchend) jedoch letztendlich untrennbar zusammengehören, vermittelt die Erklärte Nacht wirklich sehr schön.
Ich bin schon auf weitere Gedankensplitter gespannt!
[Dieser Beitrag wurde von Arbrandir am 06.06.2004 um 01:22 editiert]
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07.06.2004 02:13
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_TylerDurden_
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Zitat: Celebrian zitierte:
Oder Dichtung, was war das noch? Entführung in alte Gefühle...
Stimmenfang, Silbenzauber, ars magna im elaboriertesten Stil.
Die Kälte der Selbstbegegnung, ein Tanz zwischen sämtlichen Stühlen.
Nichts Halbes, nichts Ganzes also, doch das gewisse Etwas zuviel.
Dichtung ist besonders, es hat das gewisse Etwas. Und dieses Etwas war... zuviel?
Das klingt mir fast wie ein Abgesang, eine Erklärung wie es früher war. Eine Grabrede.
Jetzt muss ich weiter ausholen und nochmal Robert Gernhardt zu Wort kommen lassen. Und zwar eine Literaturkritik von 1999 über die Sammlung "Deutschsprachige Lyrik der neunziger Jahre". Er schreibt, oder besser, macht sich lustig:
TRIFTIGE WASSER oberflach wie ein Spaten
in denen standen die Väter bis zum Hals.
- so beginnt ein Gedicht von Hans Thill, Mitherausgeber der Sammlung und Dichter dazu. Zwei Zeilen von insgesamt sechzehn, die Sie sogleich zur Gänze hören werden, zuvor aber wollen wir uns kurz über den Anfang beugen, um uns auf den Rest einzustimmen.
TRIFTIGE WASSER oberflach wie ein Spaten
in denen standen die Väter bis zum Hals.
Zwei auf den ersten Blick dunkle Zeilen. "Triftig", so lese ich in Hermann Pauls "Deutschem Wörterbuch", kann dreierlei bedeuten "einsichtig", "überzeugend", seltener auch: "auf dem Wasser treibend". Einsichtiges, überzeugendes, auf dem Wasser treibendes Wasser - alles nicht so furchtbar triftig, belassen wir es bei der Einsicht, daß das Wort "triftig" im Zusammenhang mit Wasser hier nicht wortwörtlich, sondern eher rauschhaft zu nehmen ist, "triften" mag mitschwingen, bairisch für "flößen", "Drift" kann herausgehört werden, norddeutsch für "Strömung". Diese rauschenden Wasser nun sind "oberflach wie ein Spaten" - anfangs hielt ich dieses "ober" für eine etwas kapriziöse Steigerungsform, eine Umschreibung für "sehr flache Wasser", doch dann entschied ich mich angesichts der Tatsache, daß sehr flache Wasser auch ungewöhnlich kleine Väter bedeutet hätten - "in denen standen die Väter bis zum Hals" - für eine andere Deutung, die, daß Thill aus dem Substantiv "Oberfläche" das neologistische Adjektiv "oberflach" abgeleitet hat.
"Oberflach wie ein Spaten"- ein Vergleich, der verwundern mag, da die Wasseroberfläche immer, der Spaten jedoch nur in seiner Eigenschaft als Grabspaten flach ist, schon der Pflanzspaten ist leicht gerundet, so daß der Vergleich nach den Gesetzen der Logik hätte umgekehrt lauten müssen "Triftige Spaten oberflach wie ein Wasser"- so, wie man zwar davon reden kann, daß der Briefträger blitzschnell um die Ecke biegt, jedoch nicht davon, daß der Blitz briefträgerschnell vom Himmel zuckt, aber nochmals: In diesen oberflachen Wassern geht es nicht um oberflächliche Verständlichkeit, die läuft spätestens dann auf platten Grund, wenn wir das Gedicht vollständig zu Gehör bekommen nämlich: jetzt!
TRIFTIGE WASSER oberflach wie ein Spaten
in denen standen die Väter bis zum Hals.
Jedes Runzeln war ein kleiner Tod fehlte
es an Heizmaterial fiel die Zeugung aus. So
waren wir schon im Feuchten verschüttet
bevor es uns geben sollte. So nickten wir
ein noch bevor es uns gab.
Bei sinkendem Pegel Kopfstand der Wasser:
wir mit Bricketts Gezeugten wurden in unseren
Schlaf gepreßt. Sterben bringen Glück?
Täuschende Wasser schmeckten bitter und
weckten uns auf. One man one vote? In bib-
lischem Alter schnappte man wörtlich nach
des Großvaters hängender Frucht. Glaubwürdige
Wasser aus denen noch das exakte Plätschern
der Ahnen seufzte: sachliches Naß.
Ein sechzehnzeiliges Gedicht, die Zeilen meist fünfhebig, seltener vierhebig, einmal dreihebig. Kein hörbares Metrum, kein erkennbarer Vers, keine sichtbare Strophe strukturiert das Gebilde, das besorgen all jene Wasser, die in unterschiedlichen, stets alogischen Zusammenhängen auftauchen: "Kopfstand der Wasser", "täuschende Wasser", "glaubwürdige Wasser [...] sachliches Nass" schließlich. Doch nicht nur von "Wasser" ist häufiger die Rede, auch von "Vätern", "Zeugung" und "Schlaf" spricht da ein mit Bricketts gezeugtes lyrisches Wir. Schon hat das lyriklesende Ich seinen Frieden mit den dahinplätschernden Fragwürdigkeiten gemacht, da schrecken ihn direkte Fragen auf, teils grelle Kalauer -"sterben bringen Glück?"-, teils unbeantwortete Fangfragen aus der anglo-amerikanischen Verfassungsgeschichte, "One man one vote?" - : da heißt es Fassung bewahren, will man halbwegs trockenen Fußes über "Großvaters hängende Frucht" und das "exakte Plätschern der Ahnen" zum rettenden Gedichtende gelangen, nur noch rasch das "sachliche Nass" durchquert: Geschafft!
Hans Thill ist Jahrgang 1954, und so wie er dichten viele der 50er und 60er-Jahrgänge, so wie sein Gedicht sehen viele Gedichte aus, so wie sein Gedicht hören sich viele Gedichte dieser Anthologie an. Zum Aussehen der Gedichte: Linksbündige, unterschiedlich lange Zeilen, wahlweise im Blocksatz, reihen sich ohne Leerzeile aneinander solange das Gedicht dauert. Durchgehende Kleinschreibung, seit den 50ern über Jahrzehnte Beleg unbedingt moderner Gesinnung, tritt nunmehr selten auf, dafür verwirrt in vielen Gedichten eine, sagen wir mal, schwankende Zeichensetzung samt zweideutiger, die grammatikalischen Bezüge verwischender Schreibweisen. Manchmal, so auch bei Thill, fehlen beispielsweise satzbeendende Punkte, was zur Folge hat, daß der neue Satz mitten in der Gedichtzeile kleingeschrieben anhebt, was für punktuelles Rätselraten sorgt.
Der Form nach ist das mainstream-Gedicht der 90er also so etwas wie eine lyrische Dauerwurst, die je nach Füllmasse mal kürzer, mal länger ausfällt. Die idealtypische Füllmasse wiederum enthält ebenfalls mainstream-Ingredienzen, man nehme: litaneihaft eingesetztes Wortmaterial, Neologismen, Wortspiele, fremdsprachliche Einschlüsse - beispielhaft verbindet drei der vier Bestandteile der Titel des Gedichtbands von Brigitte Oleschinsky "Your passport is not guilty" - und verrühre das solange, bis erkennbare Sprach- und Sinnbezüge völlig in einem meist dunklen, oft zähen, stets schwer deutbaren Zusammenhang aufgehen.
Und jetzt nochmal Durs Grünbein, der übrigens einen sehr komischen Namen hat und vielleicht gerade deswegen noch grimmiger als Trakl guckt, fast wie um jeder Spöttelei zuvorzukommen.

Aber das tut hier eigentlich nichts zur Sache, also, Durs dichtet, wie wir schon wissen:
Oder Dichtung, was war das noch? Entführung in alte Gefühle...
Stimmenfang, Silbenzauber, ars magna im elaboriertesten Stil.
Tja, in den heutigen Zeiten des Dilletantismus muss man Gedichte, oder wie sie idealerweise sein sollten, erklären. Das ist die Grundprämisse der erklärten Nacht. Und was ist ein Gedicht? Ein Spiel mit der Sprache. Würde zumindest Gernhardt so kindisch sagen. Grünbein ist pathetischer, er schwärmt (gänzlich unironisch?) von großer Kunst, schwärmt von Zauberei. Vom gesteigertstem Elaborismus.
Schiller schrieb: "Ein magischer Vorgang im Rahmen der Sprache vollzieht sich, wenn wir reimen".
Und Grünbein reimt immer, was ihm sogar entnervt in einer Kritik vorgehalten wird: "Muss sich denn alles reimen, auch wenn bei Langversen die Reimwörter kaum nachklingen? Kann man nicht zumindest gar zu platte Reime umgehen?"
Die Kälte der Selbstbegegnung, ein Tanz zwischen sämtlichen Stühlen.
Nichts Halbes, nichts Ganzes also, doch das gewisse Etwas zuviel.
Die Kälte der Selbstbegegnung... hm, ein Dichter muss innerliche Ängste, Leidenschaften, Gefühle aus sich selbst herausholen. Gleichzeitig aber so allgemein bleiben, dass es auch für den Leser anwendbar bleibt. So würde ich das interpretieren.
Dem einen Gebet ohne Gott, dem andern das "Echt Absolut Reelle".
Hier zitiert er Novalis, der in seinen Fragmenten behauptet Dichter und Priester waren im Anfang eins und der erklärt:
"Die Poesie ist das echt absolut Reelle. Dies ist der Kern meiner Philosophie. Je poetischer, je wahrer. Das Märchen ist gleichsam der Kanon der Poesie - alles Poetische muß märchenhaft sein."
Das klingt natürlich paradox: Je märchenhafter, desto wahrer? Wie soll eine Scheinwelt in der dem Endlichen der Anschein des Unendlichen gegeben wird wahrhaftig sein? Aber ich will da nicht wirklich meckern, meine eigene Weltsicht ist eine sehr romantisierte.
Jene Zickzacknaht - Vernunft, an Affekte und Mythen gebunden,
Die den schläfrigen Leib präpariert mit empfindsamen Stellen.
Eine romantische Vernunft, an Gefühle und mythischen Märchen gebunden, kann nicht mit dem Metermaß begradigt sein, sondern läuft zick-zack. Ein schönes Bild. Was die Zickzacknaht an einem Schläfer präpariert (zusammenhält?) kann ich aber nicht deuten. Da denke ich zu sehr an was ekliges wie Hämorrhoiden-Operationen.
Rückkehr des Echos zur Quelle, zum Mund, wo Laute sich runden.
Zaubersprüche wollen gesprochen werden, Gedichte rezitiert. Akzentuierung, Rhythmus, Lautung, Melodie, Versmaß, Strophe, Reim, Alliteration: ein Gedicht, das nicht gut klingt, gehört zerknüllt in den Papierkorb geworfen.
Atembild, hingehaucht in die Frostluft, ins taufrische nihil.
Uh. Anyone?
Magisches Gängelband, Ariadnefaden durchs Dunkel der Aporien,
Was zum Teufel sind Aporien? Sowas wie Widerspruch/Paradoxa?
Ich behaupte einfach mal ganz frech, so ist jede Autorintention: Ein Gängelband und rettender Leitfaden zugleich. 
Kette aus Glücksmomenten bis zurück zu den Mädchenbädern am Nil.
Ach, jetzt wird er aber glitschig. Hoffen wir für die nackten Mädels, dass keine hungrigen Krokodile lauern.
Innigste Linie, nie in Zahlen zu fassen, entflieht sie den Geometrien,
Seit die Welt als beschreibbar gilt, in Formeln auflösbar, in Gesetze.
Hier will ich Arbrandir widersprechen. Denn hier wird keine Gemeinsamkeit zwischen Poesie und Mathematik beschworen, sondern eben gerade die Poesie sich der Logik widersetzend beschrieben. Als Ausweg aus der Rationalität. Und zwar schon seit praktisch immer, der Verweis auf die Geometrie als älteste Wissenschaft und das antike Ägypten ordnet es zeitlich ein.
Vergeßt dieses schamlose Ich und sein Du, herbeigeholt aus der Ferne.
Es sollen Gefühle vermittelt werden, das "du" und das "man" der Verse meint den Leser mit.
Der Vers ist ein Taucher, er zieht in die Tiefe, sucht nach den Schätzen
Am Meeresgrund, draußen im Hirn. Er konspiriert mit den Sternen.
Verschwörung der Sterne. Die chinesischen Plejaden treffen Bleu-Eye--Beteigeuze und Pistolen-Polarstern im rauchigen Hinterzimmer des Unterbewusstseins, zum Assoziationen aushecken... Das gefällt mir!
Metaphern sind diese flachen Steine, die man aufs offene Meer
Schleudert vom Ufer aus. Die trippelnd die Wasserfläche berühren,
Drei, vier, fünf, sechs Mal im Glücksfall, bevor sie bleischwer
Den Spiegel durchbrechen als Lot. Risse, die durch die Zeiten führen.
Ich würde nur "flache Steine" schreiben und "diese" streichen. *verbesser*
Wahrig Fremdwörterlexikon
Lot 1.Zusammenstellung von Briefmarken(sätzen) 2.Zusammenstellung von Zuchttieren oder einer bestimmten Ware, z.B. für Auktionen [engl., „Menge, Posten”]
Ähm, nein.
Lot
Schifffahrt
Gerät zum Messen von Wassertiefen, beim Handlot mit einer Hanfleine bis zu 90 m; beim Tiefseelot besteht die Leine aus Klaviersaitendraht von einigen 1000 m Länge
Poesie als Guckloch in fremde Vorstellungswelten vergangener Zeiten. Aber auch als Relikte, als vergessene Überbleibsel. Der Spiegel ist dann die Zeit, das Aufdopsen die Popularität eines Werks, bevor es in die Untiefen der Büchereien absinkt und verstaubend Patina ansetzt.
Philosophie in Metren, Musik der Freudensprünge von Wort zu Ding.
Geschenkt, sagt der eine, der andre: vom Scharfsinn gemacht.
Preisfrage: Ist der Tausendste, der auf Sonne Wonne reimt, auf Herz Schmerz und auf Brust Lust, ein scharfsinniges Genie oder ein einfallsloses Kretin?
Was bleibt, sind Gedichte. Lieder, wie sie die Sterblichkeit singt.
Ein Reiseführer, der beste, beim Exodus aus der menschlichen Nacht.
Was bleibet aber, stiften die Dichter. (Hölderlin)
Könnte die Sterblichkeit allerdings singen, würde sich die Tonleiter mehr wie ein geröcheltes "Aaaahhhhrrrgggg" anhören.
Aber ich werde so spät albern. Trotzdem, als krönenden Abschluss unterstelle ich Celebrian noch einen Denkfehler. Sie schrieb:
Aber können Gedichte herausführen aus dem Bösen, aus der Unaufgeklärtheit? Ich neige dazu, das zu bejahen (jaaa, ich bin Idealistin)
Du machst hier einen Denkfehler. Erklärbär Grünbein analysiert: Wir Menschen wandeln durchs Dunkel und Gedichte führen uns heraus in eine verklärte Nacht. In der Sterne funkeln, die Luft mit Gefühlen geschwängert ist und Grillen bedeutungsvoll zirpen. Nix Aufklärung.
Verklärte Nacht (Richard Dehmel)
Zwei Menschen gehn durch kahlen, kalten Hain;
der Mond läuft mit, sie schaun hinein.
Der Mond läuft über hohe Eichen,
kein Wölkchen trübt das Himmelslicht,
in das die schwarzen Zacken reichen.
Die Stimme eines Weibes spricht:
Ich trag ein Kind, und nit von dir,
ich geh in Sünde neben dir.
Ich hab mich schwer an mir vergangen;
ich glaubte nicht mehr an ein Glück
und hatte doch ein schwer Verlangen
nach Lebensfrucht, nach Mutterglück
und Pflicht - da hab ich mich erfrecht,
da ließ ich schaudernd mein Geschlecht
von einem fremden Mann umfangen
und hab mich noch dafür gesegnet.
Nun hat das Leben sich gerächt,
nun bin ich dir, o dir begegnet.
Sie geht mit ungelenkem Schritt,
sie schaut empor, der Mond läuft mit;
ihr dunkler Blick ertrinkt in Licht.
Die Stimme eines Mannes spricht:
Das Kind, das du empfangen hast,
sei deiner Seele keine Last,
o sieh, wie klar das Weltall schimmert!
Es ist ein Glanz um alles her,
du treibst mit mir auf kaltem Meer,
doch eine eigne Wärme flimmert
von dir in mich, von mir in dich;
die wird das fremde Kind verklären,
du wirst es mir, von mir gebären,
du hast den Glanz in mich gebracht,
du hast mich selbst zum Kind gemacht.
Er fasst sie um die starken Hüften,
ihr Atem mischt sich in den Lüften,
zwei Menschen gehn durch hohe, helle Nacht.
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07.06.2004 14:07
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Arbrandir
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Atembild, hingehaucht in die Frostluft, ins taufrische nihil.
und
Kette aus Glücksmomenten bis zurück zu den Mädchenbädern am Nil.
Das "nihil" (nichts) und der Nil sind sich zu ähnlich, als daß Grünbein die beiden zufällig einander nahegerückt haben könnte. Der Nil als Lebensspender der Hochkultur, komplett mit badenden Mädchen wie auf uralten Darstellungen. Biblisches klingt in diesem Bild an, so wie auch im "nihil", im Nichts, das in der Genesis vor allem war. "Am Anfang war das Wort." Der erste Moment, eben noch von Bedeutung unbelastet, kalt, rein, plötzlich vom Atem Gottes / der Dichtkunst belebt. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.
Mir gefällt die Gegenüberstellung Ägypten/warm/Kulturbeginn vs. Wintertag/kalt/unbefleckt.
Was bleibt, sind Gedichte. Lieder, wie sie die Sterblichkeit singt.
Ein Reiseführer, der beste, beim Exodus aus der menschlichen Nacht.
Das Bild der "menschlichen Nacht" läßt sich natürlich auf die Abwesenheit von Idealen, Kultur, Zivilisation, Aufklärung anwenden. Poesie als Gegenpol zu und Weg aus der Barbarei, dem Menschenverachtenden hin zur Menschlichkeit. Aber für mich beinhaltet es mehr: Das Bewußtsein unserer Sterblichkeit, des zwangsläufigen Todes ist die menschliche Nacht. Gedichte bleiben -- über den Tod hinaus, und auch über das Bewußtsein des Todes selbst hinaus. Sie verewigen das, was wesentlich ist. Somit schlägt die Dichtkunst der Sterblichkeit ein Schnäppchen -- obwohl (oder gerade weil) sie nur aus der menschlichen Erfahrung schöpfen kann. Grünbein baut hier wieder einen filigranen Bogen zwischen Sterblichkeit und dem Unsterblichen. Poesie läßt uns einen Blick werfen auf das, was unangetastet bleibt von Leben und Sterben: die Wahrheit.
Innigste Linie, nie in Zahlen zu fassen, entflieht sie den Geometrien,
Seit die Welt als beschreibbar gilt, in Formeln auflösbar, in Gesetze.
Zitat: Hier will ich Arbrandir widersprechen. Denn hier wird keine Gemeinsamkeit zwischen Poesie und Mathematik beschworen, sondern eben gerade die Poesie sich der Logik widersetzend beschrieben. Als Ausweg aus der Rationalität.
Mißverständnis. Grünbein beschwört hier keine Gemeinsamkeit von Poesie und Mathematik – er stellt sie einander gegenüber und stellt fest, daß Dichtung eben immer mehr war als starre (metrische) Regeln und mathematische Gesetzmäßigkeiten, daß sie über das sachlich erfaß- und kategorisierbare hinausgeht.
Trotzdem bleibe ich dabei – Mathematik, Musik und Dichtung beruhen alle auf demselben Fundament; sie als Gegensätze zu sehen heißt, ihre enge Verwandtschaft zu leugnen.
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08.06.2004 23:59
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Celebrian
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Meine erfreute Verneigung vor den bisherigen Grünbeindisputanten Arbrandir und Tyler - nachdem ich mich nun bis unten durchgekämpft habe! Ich wußte gar nicht, daß das "echt absolut Reelle" von Novalis stammt, es klang so nach "voll cool"-Sprache, und ebendeshalb konnte ich es nicht recht einordnen. Jetzt wird es natürlich klarer, Novalis meint die Essenz, das Wahre.
Zitat: Arbrandir schrieb: Wir neigen heutzutage dazu, diese beiden Manifestationen als einander entgegengesetzte Pole zu begreifen. Daß diese Pole (wieder dem Gesetz der Balance/Harmonie gehorchend) jedoch letztendlich untrennbar zusammengehören,
Oder in Goethes Formulierung: "Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben." Wie sagte einer meiner Dozenten so treffend: "Eins müssen Sie sich merken, Goethe hat immer recht!" (*JohannWolfganganschmacht*)
Zitat: Tyler schrieb: Hans Thill ist Jahrgang 1954, und so wie er dichten viele der 50er und 60er-Jahrgänge, so wie sein Gedicht sehen viele Gedichte aus, so wie sein Gedicht hören sich viele Gedichte dieser Anthologie an.
Hm, das hat Gernhardt scharfäugig erkannt - aber folgte Dichtung nicht zu allen Zeiten gewissen Moden? Man muß sich eben die Perlen heraussuchen, was zugegebenermaßen heute schwerer fällt, weil furchtbar viel auf den Markt kommt. Und weil schwerer zu entscheiden ist, ob sich hinter der Geheimnistuerei ein Dilettant verbirgt oder nicht...
Zitat: Tyler schrieb: Tja, in den heutigen Zeiten des Dilletantismus muss man Gedichte, oder wie sie idealerweise sein sollten, erklären. Das ist die Grundprämisse der erklärten Nacht. Und was ist ein Gedicht? Ein Spiel mit der Sprache. Würde zumindest Gernhardt so kindisch sagen. Grünbein ist pathetischer, er schwärmt (gänzlich unironisch?) von großer Kunst, schwärmt von Zauberei. Vom gesteigertstem Elaborismus.
Schiller schrieb: "Ein magischer Vorgang im Rahmen der Sprache vollzieht sich, wenn wir reimen".
Okay, nicht nur Goethe, auch Schiller hatte manchmal recht. *g* Ich würde auch sagen, daß Grünbein nicht unironisch schwärmt, er schlendert locker durch Jahrhunderte und Poetologien und sagt: Schaut, das sind Angebote, Ideen, Theorien, mehr oder weniger treffende, wunderbare und wunderliche Spinnereien von Wahrheitssuchenden...
Zitat: Tyler schriebPoesie als Guckloch in fremde Vorstellungswelten vergangener Zeiten. Aber auch als Relikte, als vergessene Überbleibsel. Der Spiegel ist dann die Zeit, das Aufdopsen die Popularität eines Werks, bevor es in die Untiefen der Büchereien absinkt und verstaubend Patina ansetzt.
Uff, hier komme ich nicht mehr mit, will sagen, das ist sehr schön, aber ich finde das Gedicht darin nicht wieder. Wo kommt da die Popularität des Werkes her? Es geht doch gar nicht um das Werk, sondern nur um die Metaphern? *rätsel*
Der Tag morgen beginnt schauerlich früh, ich schaffe es nicht, zu allem was zu schreiben, vor allem zur "Rückkehr des Echos"-Zeile spukt mir noch was im Kopf herum. Aber noch zu meinem Denkfehler:
Wie kommst Du darauf, daß Grünbein doch wieder auf die verklärte Nacht hinaus will? Ich sehe da eigentlich keine Anzeichen von Verklärung... Aber mein Ansatz griff in anderer Hinsicht zu kurz, wie Arbrandir deutlich machte:
Zitat: Arbrandir schrieb: Das Bild der "menschlichen Nacht" läßt sich natürlich auf die Abwesenheit von Idealen, Kultur, Zivilisation, Aufklärung anwenden. Poesie als Gegenpol zu und Weg aus der Barbarei, dem Menschenverachtenden hin zur Menschlichkeit. Aber für mich beinhaltet es mehr: Das Bewußtsein unserer Sterblichkeit, des zwangsläufigen Todes ist die menschliche Nacht. Gedichte bleiben -- über den Tod hinaus, und auch über das Bewußtsein des Todes selbst hinaus. Sie verewigen das, was wesentlich ist. Somit schlägt die Dichtkunst der Sterblichkeit ein Schnäppchen -- obwohl (oder gerade weil) sie nur aus der menschlichen Erfahrung schöpfen kann. Grünbein baut hier wieder einen filigranen Bogen zwischen Sterblichkeit und dem Unsterblichen. Poesie läßt uns einen Blick werfen auf das, was unangetastet bleibt von Leben und Sterben: die Wahrheit.
Wunderschön, vollste Zustimmung. Mir ist erst am nächsten Tag aufgegangen, daß ich die Sterblichkeit in der Eile des Postingsverfassens völlig unterschlagen hatte, dabei bildet sie den ganz wichtigen Dreh- und Angelpunkt (und dieser Punkt war auch einer der Gründe, aus denen die Zeilen meine Sig wurden, puuh, Celebrian, wie verschusselt kann man sein??). Aus dem Todesbewußtsein heraus werden Menschen schöpferisch oder auch philosophisch, mit dem Todesbewußtsein fängt überhaupt das ganze Menschsein an, mit allen Herrlich- und Schändlichkeiten. Und selbst wenn Gedichte in Vergessenheit geraten, waren sie ewig, so lange es sie gab, weil ebenjene aus der Nacht hinausweisende Kraft in ihnen lag. Wobei die Erklärte Nacht ja offenläßt, wie weit die Überwindung der Nacht gehen kann - der Reiseführer verlangt, daß man selber geht, und auch im Exodus scheint mir eher ein ständiges Unterwegssein mitzuschwingen als ein "wir gehen von A nach B".
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"Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt."
L. Wittgenstein
"Day 200075:
Council very boring. Got to say "DOOM" a few times in v. dramatic voice."
(The very secret diary of Lord Elrond)
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10.06.2004 14:21
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_TylerDurden_
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Zitat: Es geht doch gar nicht um das Werk, sondern nur um die Metaphern? *rätsel*
Ährm... Stimmt. Zuerst hatte ich auch etwas über Metaphern geschrieben, und zwar rätselte ich über die Risse in der Zeit. Vielleicht ist gemeint, dass sie auch immer eine vergangene Weltsicht widergeben? Zum Beispiel:
"Du bist wie eine Stute am Wagen des Pharaos...
Deine beiden Brüste sind wie zwei Kitzen,
Gazellenzwillinge, die unter den Lilien weiden."
Klingt sehr schön, ich weiss auch ungefähr was gemeint ist, aber naja, es war einmal. Oder als ich ein Kind war gabs auch noch den Spruch "Bin ich Rockefeller?", während man heute sagt "Bin ich Bill Gates?". Wobei hier das Prinzip des Vergleichs ewig gültig bleibt, genauso wie beim schönen "glaukas eis Athenas" oder "carry coals to Newcastle". Warum oder woher der Bartel den Most holt, weiss allerdings keiner mehr.
Jetzt wird es etwas verworren: Mit meinem Geschreibsel war ich unzufrieden, also habe ich den Absatz gelöscht und neu geschrieben, die Metaphern als Legosteine der Poetik postuliert und so die Zeile auf Gedichte ingesamt verallgemeinert. Das hatte den Vorteil, dass ich dadurch elegant das Steinchen-Dopsen unterbekam und den Nachteil, dass die Zeile so sicher nicht intendiert war und ich dich verwirrte.
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12.06.2004 14:56
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Celebrian
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Beiträge: 239
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Zitat: _TylerDurden_ schrieb:
Jetzt wird es etwas verworren: Mit meinem Geschreibsel war ich unzufrieden, also habe ich den Absatz gelöscht und neu geschrieben, die Metaphern als Legosteine der Poetik postuliert und so die Zeile auf Gedichte ingesamt verallgemeinert. Das hatte den Vorteil, dass ich dadurch elegant das Steinchen-Dopsen unterbekam und den Nachteil, dass die Zeile so sicher nicht intendiert war und ich dich verwirrte.
Oha, ist Tyler kreativ geworden. Der Schrecken jedes Deutschlehrers. *fg* Will ich diesen Job wirklich??
Noch ein Wort zu folgender Zeile:
Rückkehr des Echos zur Quelle, zum Mund, wo Laute sich runden.
Mir gingen da zwei Strophen eines Gedichtes von Ossip Mandelstam im Kopf herum, es heißt "Silentium" und ist auch außerhalb von Slavistenkreisen recht bekannt (man verzeihe das folgende prosaische Geholper, aber die Nachdichtungen, die es gibt, verfälschen, leider auch die Celans):
Könnte mein Mund sie finden,
die ursprüngliche Stummheit,
die so ist wie ein kristallener Ton,
der von Geburt rein ist!
Bleib Schaum, Aphrodite,
und Wort, kehr zurück in die Musik,
und Herz, schäme dich des Herzens,
mit dem Ursprungsgrund des Lebens verschmolzen!
So ganz wahllos habe ich das nicht zitiert: Durs Grünbein ist bekennender Mandelstam-Liebhaber, und in einem Interview macht er ihm das bemerkenswerte Kompliment, Mandelstam habe "das Urvertrauen in die Moderne geschmuggelt". Wenn man Mandelstam kennt und liebt, und sei es nur oberflächlich, kennt man auch "Silentium". Es ist also durchaus möglich, daß die obige Zeile von Mandelstams Gedicht inspiriert wurde.
Da hat jemand die eigenartige Idee, Lyrik müsse zurück in die ursprüngliche Stummheit. Bei Grünbein: Rückkehr des Klangs zum Mund, also das Nichterklingen. Tylers unwilliges "Gedichte müssen erklingen!" kann ich da schon verstehen. Vielleicht kann uns hier wieder Platon helfen (dabei mag ich den gar nicht, grmpf, aber man kommt wohl nicht an ihm vorbei): vielleicht entspricht die Rückkehr zur Stummheit der zum Ur-Bild (Urbild und Abbild verhielten sich dann so wie Quelle und Echo), will sagen, Lyrik muß, wenn sie "wahr" sein will, zurück in diese Ursprungsgründe, in ein unausgesprochenes, unaussprechliches "an sich". Das Erklingen ist sozusagen schon die Sinnenwelt.
Man könnte auch sagen, daß es Grünbein, anders als Mandelstam, nicht um die Stummheit geht, sondern um den Moment des Erklingens, "wo Laute sich runden", aber dann kriege ich Echo und Quelle nicht mehr so recht unter. *grübel*
[Ich kann nicht widerstehen und mache an dieser Stelle Werbung für Mandelstam, genauer, für beide Mandelstams: Ossip Mandelstam, ein russischer Jude, geb. 1891 in Warschau, schrieb zärtlich, verspielt, leidenschaftlich, bitter, verrätselt, witzig, verrückt, hochintelligent; hauptsächlich Gedichte und Essays. Er träumte inmitten der Barbarei von Bürgerkrieg und Revolution den Traum eines friedenstiftenden, kulturbringenden Europas. Um noch mal Durs Grünbein das Wort zu geben: "Die Leichtigkeit inmitten der historischen Katastrophe, diese an Wahnsinn grenzende Musikalität, während der Weltgeist lärmt und die revolutionäre Phrase alles verschlingt: kein anderer hat einen so komplexen Ausdruck dafür gefunden." Mandelstam wurde unter Stalin schnell zur persona non grata, wurde zweimal verhaftet, das zweite Mal wegen eines recht bösartigen Gedichtes gegen Stalin, und starb 1938 in einem Lager bei Wladiwostok.
Seine Frau Nadeshda Mandelstam ist für mich eine der Heldinnen des 20. Jahrhunderts: sie war nach Mandelstams Tod jahrzehntelang auf der Flucht, reiste kreuz und quer durch diverse Provinznester der Sowjetunion (sie konnte als Ehefrau eines Volksfeindes nirgendwo lange bleiben), wurde teils angefeindet, teils verfolgt, trug die Manuskripte Mandelstams im Kochtopf mit sich und lernte sie auswendig für den Fall, daß sie gefunden und konfisziert würden, widerstand den immer wiederkehrenden Selbstmordgedanken, weil sie empfand, daß sie eine Aufgabe hatte, und schrieb schließlich zwei Bände "Erinnerungen" über ihr Leben mit Mandelstam (und natürlich geben sich auch andere Vertreter der russischen Dichtung ein Stelldichein). Diese Bände sind leicht gekürzt auch auf deutsch erschienen ("Das Jahrhundert der Wölfe" und "Generation ohne Tränen"), aber zur Zeit leider vergriffen. Jedenfalls sind sie eine wunderbare Alternative zu einem zwar korrekteren, aber unpersönlichen Geschichtsbuch: sie sind der Zeitzeugenbericht einer hochintelligenten Frau, die zu keiner Zeit der Verführung der Selbstdarstellung nachgibt, sondern scharf beobachtet und sich von Anfang an als Chronistin versteht, als Chronistin des Dichters Mandelstam sowie des Todeskampfes der russischen Intelligenzija während der Stalinzeit.
Ossip und Nadeshda waren - wunderbarerweise für uns - öfter für längere Zeit getrennt, das hat der Nachwelt herrliche Liebesbriefe beschert, herausgegeben unter dem Titel "Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David" (Ossip war erfinderisch in Sachen Kosenamen).]
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