02.08.2004 19:16
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Ludy
Chief Resident
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Meine wunde Stelle ist Oberlehrerhaftigkeit, gepaart mit einem (scheinbaren) Inanspruchnehmen der einzig richtigen Ansicht. Außerdem war ich zu dem Zeitpunkt recht reizbar, sonst wäre ich wohl nicht "wie eine Rakete abgegangen", sondern hätte mich einfach meines Kommentars enthalten.
Aber jetzt hörst Du Dich ja anders an, und da kann ich auch ganz verträglich und lieb antworten. 
Zitat: ist das so, dass Autoren manchmal eine Kompetenz zugeschrieben wird, die über die reine Erzählkompetenz hinausgeht
Auf jeden Fall. Agatha Christie ist höchstwahrscheinlich keine brilliante Kriminalistin, und Patricia Highsmith hat auch nicht Psychologie studiert, aber trotzdem erzählen beide schöne uns spannende Geschichten. Weil Dritte diesen Autoren andere Fähigkeiten zuschreiben, muß das doch auch nicht heißen, daß sie diese auch diese Meinung von sich haben.
Tom Ripley reizt mich nicht, weil es so einen Menschen vielleicht wirklich geben könnte. Mir gefällt das "was wäre, wenn..." Vielleicht gibt es wirklich keine Menschen, die sich so exakt in andere hineinversetzen können. Vielleicht denkt Tom auch nur, er wüßte genau, was die Leute gerade denken. Andererseits kann man in manchen Menschen tatsächlich "lesen wie in einem Buch." Was wäre, wenn man einen jungen Mann hat, der das besonders gut kann, der unzufrieden mit seinem Leben ist und außerdem eine Vollklatsche hat? Was wäre, wenn dieser junge Mann plötzlich die Möglichkeit bekommt, auf einen anderen Kontinent zu reisen und ein neues Leben zu beginnen, mit dem Auftrag, das Vertrauen eines Millionärssohns zu gewinnen?
Analog dazu könnte man Süskinds "Parfum" nennen. Den Mann mit dem absoluten Geruchssinn, wie er beschrieben wird, gibt es nicht. Aber was wäre, wenn man einen Menschen wie Grenouille entwirft und auf die Suche nach dem Duft der Liebe schickt?
Mit dem Ripley bin ich übrigens zu zwei dritteln durch, aber ich soll ja nichts zum Inhalt schreiben - um Kaylee den Film nicht zu verderben.
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02.08.2004 19:59
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Kaylee
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Zitat: Ludy schrieb:
Mit dem Ripley bin ich übrigens zu zwei dritteln durch, aber ich soll ja nichts zum Inhalt schreiben - um Kaylee den Film nicht zu verderben.
doch, doch...schreib ruhig! Habe mir das inzwischen Thanileske zurecht gelegt und betrachte Buch und Film einfach als zwei komplett unterschiedliche Sachen, die überhaupt nicht verglichen werden MÜSSEN. *absolutsouveränschau*
Zitat: Ludy schrieb:
Vielleicht gibt es wirklich keine Menschen, die sich so exakt in andere hineinversetzen können.
Nun, zumindest solche Leute wie Wahrsager, Kartenleger oder 'echte' Hochstapler scheinen das schon ziemlich gut zu können. Der Film (wieso komm ich selbst in diesem forum nur immer wieder auf Filme?) 'Catch me if you can' beruht doch auf einer wahren Begebenheit, und dieser Held steht Mr Ripley in nicht vielem nach, bis auf die Morde....
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03.08.2004 12:53
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Ludy
Chief Resident
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Wer weiß... vielleicht haben diese Hochstapler nur besonders tolle suggestive Fähigkeiten. Oder sie können es einfach. Das Buch habe ich übrigens durch - [Spoiler] und Tom hat gewonnen. Man hat ihn nicht erwischt. Kein Wunder, immerhin folgen vier weitere Ripley - Romane. Aber das Ende hat mich doch etwas enttäuscht. Es ging mir für meinen Geschmck zu glatt aus. Am Schluß läßt Tom Mr. Greenleaf noch ein gefälschtes Testament von Dickie zukommen, in dem dieser Tom seinen ganzen Besitz vermacht. Das ist unlogisch und paßt nicht zu Tom. Er hätte Marge mit bedenken müssen, wenn auch nur mit ideellen Werten.
Wie geht denn der Film aus?
Was soll ich denn als nächstes lesen? Damit es nicht zu demokratisch wird, habe ich eine Vorauswahl getroffen, aus der ihr hier bitte abstimmt.
[Dieser Beitrag wurde von Ludy am 03.08.2004 um 12:53 editiert]
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03.08.2004 12:34
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Ludy
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Wer war dieser Jakob Abs? An einem nebligen Morgen im November wird der Achtundzwanzigjährige, der bei der Reichsbahn arbeitet, auf dem Gelände des Dresdner Bahnhofs von einer Lokomotive überfahren. Damit beginnen die kunstvoll formulieren Mutmaßungen des Erzählers: War es ein Unfall? Beging er Selbstmord? Und wenn ja: Was mag ihn dazu getrieben haben? Oder war es gar ein politischer Mord? Aber aus welchen Motiven? In einer Reihe von Gesprächsfetzen, in denen sich jene Personen zu Wort melden, die dem Protagonisten am nächsten standen, entsteht nach und nach das Bild des verlässlichen und schweigsamen Jakobs. Da sind seine Mutter und seine Freundin Gesine, die in den Westen geflohen sind, da ist aber auch Hauptmann Rohlfs von der Spionageabwehr der DDR. Es stellt sich heraus, dass der Hauptmann Jakob sogar in den Westen fahren ließ. Doch der kam zurück, enttäuscht vom Leben in der BRD. Sein neues Leben in der DDR jedoch dauerte nur einen einzigen Tag.
„Mutmassungen über Jakob“ (1959) war der erste Roman von Uwe Johnson, der in der DDR nicht erscheinen durfte. Er wurde zeitgleich zu seinem „Umzug“ nach Westberlin veröffentlicht. Er erzählt die Geschichte eines Unpolitischen, der in politisch aufgewühlten Zeiten im wahrsten Sinne des Wortes unter die Räder kommt.
Hmmm... schwer. Der von mir hervorgehobene Teil klingt ganz interessant, aber mir steht zur Zeit nicht der Sinn nach politischer Literatur. Außerdem ist die Farbe schrecklich. Man kann den Klappentext im Buch gar nicht lesen, weiß auf champagner-beige.
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03.08.2004 12:39
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Ludy
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Anton Steenwijk ist noch ein Junge, als das nationalsozialistische Deutschland die Niederlande besetzt. Als Widerstandskämpfer einen Offizier der holländischen Faschisten erschießen und den Leichnam vor dem Haus seiner Eltern ablegen, sind die Folgen für Anton dramatisch. Die Deutschen stecken sein Elternhaus in Brand, und Anton wird von seinen Familienangehörigen getrennt, die noch an Ort und Stelle umgebracht werden. Er wächst fortan bei einem Onkel auf und beginnt nach und nach, die Ereignisse zu verdrängen. Selbst als er nach Kriegsende vom schrecklichen Los seiner Angehörigen erfährt, verspürt er keinen Drang, die Täter ausfindig zu machen und zur Rechenschaft zu ziehen. Seine Berufswahl wirkt geradezu symbolhaft: Er arbeitet als Anästhesist, aber eigentlich, so scheint es, will er seine eigene traumatisierte Erinnerung betäuben. Doch immer wieder wird er mit der Vergangenheit konfrontiert, bis er eines Tages die Augen nicht mehr verschließen kann.
Mulischs Roman „Das Attentat“ (1982) ist eine meisterhaft erzählte Parabel vom Erinnern und Verdrängen, von kollektiver Schuld und individuellen Traumata. Sie ist spannend wie eine Detektivgeschichte und war der wohl größte literarische Erfolg in den Niederlanden der Achtzigerjahre.
Schwer. Nachkriegsliteratur. Schlimme Vergangenheit. Parabel. Mag ich alles nicht so sehr momentan. Andererseits - spannend wie eine Detektivgeschichte und wohl größte literarische Erfolg in den Niederlanden der 80er. Und ich bin ja Viertelholländerin.
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04.08.2004 18:58
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Ludy
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In meiner tollen Umfrage haben 46% dafür gestimmt, daß ich das Hotel New Hampshire lesen soll. Eigentlich habe ich ja ganz schöne Vorurteile, was dieses Buch betrifft, und zwar wegen des Filmes. Ein Freund schwärmte mir davon vor, wie toll der doch sei, und erzählte mich ziemlich viele Details, die ich wiederum nicht witzig, sondern grotesk und auch recht abstoßend fand. Wenn ich das Buch auch so finde, werde ich es nicht zu Ende lesen. Nur daß ihr's wißt.
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04.08.2004 19:06
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pfeifenkrautler
Honk
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Ich fand's doof. Ich rate zum "Gatsby".
Ich hoffe, ich konnte dir damit helfen, es empfiehlt sich der pk
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07.08.2004 12:44
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Ludy
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Tja, die Mehrheit hat nunmal entschieden.
Warum fandest Du das Hotel N. H. denn doof, pk? Ist es wirklich so ekelhaft, wie ich befürchte? Dem Anfang stehe ich bereits zwiespältig gegenüber:
1. Der Bär namens State o' Maine
Die Einleitung finde ich von der Idee her einladend zum weiterlesen. Wir haben einen Ich-Erzähler, der die Familiengeschichte nachzuerzählen beginnt. Er ist eins von fünf Kindern und seiner Meinung nach das einzige, das in der Lage ist, die Geschichte wiederzugeben. Und so liegt es nun an mir, dem mittleren und am wenigsten voreingenommenen von uns Kindern, die Tatsachen ins rechte – oder fast rechte – Licht zu rücken.
So erzählt der John nun, wie seine Eltern aus der selben Kleinstadt kommen und zufällig im selben Küstenbad im selben Hotel jobben. Hier merken sie auf einmal, dass sie sich eigentlich ganz nett finden und verlieben sich. In dem Hotel arbeitet auch ein Wiener Jude, den alle Freud nennen (der richtige Name ist angeblich unaussprechlich). Freud hat ein Motorrad und einen Bären, der State o’ Maine heißt. Der Bär fährt immer im Beifahrerwagen des Motorrads mit, ist sehr gefräßig und ziemlich dumm, aber es reicht für eine witzige Nummer in der Abendunterhaltung. Eines Tages kommt es zu einem Zwischenfall mit einer deutschen Reisegruppe. Wir befinden uns gerade in den Dreißigern, und die Deutschen ziehen über den Juden an sich und Freud im speziellen her, Freud bringt einen Deutschen dazu, etwas zu tun, was den Bären in Rage bringt und darf daraufhin natürlich nicht mehr im Hotel arbeiten. Der Vater des Erzählers denkt, er könne mit dem Bären bessere Nummern einstudieren und kauft ihn für seinen gesamten bisherigen Verdienst und alle Kleidung, die er hatte (Freuds Sachen kamen gerade aus der Wäsche und waren zu nass – er hatte es wirklich eilig).
Mutter und Vater heiraten, als sie wieder im heimatlichen Ort ankommen, er beginnt, mit dem Bären durch die Lande zu ziehen und zieht ein Studium an der Harvard-Uni durch, wird Soldat im zweiten Weltkrieg, sie bekommt zwischendurch fünf Kinder, nach ein paar Jahren wird der Bär krank. Eines Sommers beschließt man, zum Hotel zurückzukehren, aber es ist schon lange geschlossen. Am Hummerkai steht ein Junge mit einem Gewehr, um Robben zu erschießen. Der Bär läuft hin, um Köder zu klauen, und wird vom Jungen erschossen.
Ende von Kapitel eins.
Es wäre nett zu lesen gewesen, dieses erste Kapitel. Wenn nicht die ständigen Persektivenwechsel wäre. Wie ich es verstanden habe, erzählt der John diese Geschichte. Aber die Franny, das zweite Kind, redet immer dazwischen, und zwar nur vom ficken.
...wie Vater und Mutter sich verliebten und in raschen Folge Frank, Franny und mich zeugten („Peng, Peng, Peng!“ sagt Franny gern), und wie sie dann, nach einer kurzen verschnaufpause noch Lilly und Egg („Blup und Pfft“, sagt Franny) in die Welt setzten.
„Oder aber, du lässt all die saftigen Stellen weg“, beschuldigte ihn Franny, „nur weil du meinst, Lilly und Egg seien noch zu jung für die ganzen rumvögeleien.“
Frank blickte finster drein und Franny forderte ihn auf: „Spiel doch ein bisschen mit dienem Ding, Frank, dann fühlst du dich wohler.“
Sie redet also immer dazwischen oder steckt John die Zunge ins Ohr oder beleidigt ihren großen Bruder Frank. Das nervt mich sehr.
Wenn ich die Andeutungen richtig verstanden habe, wird die Beziehung von Franny und John noch eine Rolle spielen; vielleicht gibt sich Irving deshalb so viel Mühe, Franny als widerliches Gör darzustellen, dem man auch als friedliebender Mensch gern eine klatschen würde, damit es die Klappe hält. Für mich ist es schwer zu ertragen. Aber ich werde noch ein Kapitel lesen.
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Manche leuchten, wenn man sie liest.
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07.08.2004 13:28
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Ramujan
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*seufz* Vermutlich bin ich hier der einzige, dem das Hotel gefallen hat.
Irving hat seinen ganz eigenen Schreibstil, der aber überraschenderweise sehr gut lesbar ist. Dazu kommen seine oft skurrilen Einfälle und sein Talent, niemals - egal was und wovon er schreibt - ins Melodramatische oder Kitschige abzudriften. Übrigens finde ich auch den Anfang des Buches sehr gelungen: das chaotische Familiengespräch wirft den Leser sofort ins Geschehen, auch die Figuren werden recht schnell charakterisiert. Ob Franny nervig ist? Fand ich nicht. Sie ist halt die lauteste.
Aber wenn du die erste Seite schon nicht magst, wirst du mit dem Rest des Buches auch nicht viel anfangen können, soviel kann ich, glaube ich, versichern.
Befolge also den Rat des pfeifenkrautlers und lies den Gatsby. Dann kannst du hier ja reinschreiben, wie du ihn findest - ohne zu spoilern, das Buch liegt nämlich auch noch ungelesen in meinem Regal.
[Dieser Beitrag wurde von Ramujan am 07.08.2004 um 13:26 editiert]
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07.08.2004 19:37
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Re: Das Hotel New Hampshire
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pfeifenkrautler
Honk
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Zitat: Ludy schrieb:
Warum fandest Du das Hotel N. H. denn doof, pk?
Ach, das ist schon sooo lange her...ich hab mal fast alle Irvingbücher am Stück weggelesen, ich fand ihn also richtig toll. Aber schon da hat mir das "Hotel" am wenigsten gefallen. Ich fand es gekünstelt, pseudo-bohèmesk, pseudo-provokativ und noch ein paar Pseudos.
Ich hatte irgendwann auch einfach eine Irving-Überdosis, mir ging das z.B. so auf den Keks, wie er in jede Story Bären und Wien reinbringen muss, in jede! Nur weil er mal in Wien studiert hat und dort irgendwas mit einem Bären hatte oder was weiß ich. Das wirkt so billig, so "Seht her, ich hab in EUROPA studiert!" Dieser komische Minderwertigkeitskomplex amerikanischer Intellektueller gegenüber der alten Welt, eine ganz merkwürdige Sache.
Aber "Garp" und "The water method man" liebe ich nach wie vor. "Owen Meany" und die "Ciderhouse rules" sind solide Kost. Die neueren Sachen kenne ich nicht mehr.
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