14.02.2005 14:20
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Waldelb
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Zitat: pfeifenkrautler schrieb:
Neue Vahr Süd ist ein sehr dickes Buch, dass sich schneller liest als die Polizei erlaubt. Wahrscheinlich liest es sich so mal eben weg, weil es ein kaum von Handlung durchbrochener "stream of consciousness" ist, sehr gimliesk, und was Frank Lehmann so denkt und grübelt und sich überlegt, das schwankt zwischen banal, skurril und ziemlich witzig und manchmal ist es auch traurig, wie als er immer sich wieder vornimmt, sich bloß nicht zu verlieben, denn "dann wird alles extrabitter", da wollte ich ihm zurufen, Junge, du bist jung, scheiß der Hund drauf, ob es bitter wird oder nicht, da wird es eh, irgendwie. Und immer wieder konnte ich den Liedtexter Regener heraushören, oft fielen mir Liedzeilen von EoC-Songs ein, da muss man mal in Ruhe drüber nachdenken, wie das alles zusammenhängt, und dann war das Buch auch schon aus und ich war betrübt, denn ich hatte das Gefühl, die Personen eben erst kennengelernt zu haben, von mir aus hätte das noch ewig so weitergehen können, mit dem ganzen Gelaber der Genossen, dem Rumgeschreie beim Bund, dem Frust, den Dönermannbesuchen, den zarten Liebesbanden und dem sich gegenseitig auf den Senkel gehen.

Zitat: pfeifenkrautler schrieb:
Kritik: "Neue Vahr Süd" ist weniger pointiert, weniger scharfzüngig und ja, auch weniger witzig als "Herr Lehmann", (...)
Da kann ich dir nur teilweise zustimmen. Ganz klar, als Einstieg wuerde ich auch "Herr Lehmann" empfehlen und nicht "Neue Vahr Sued" (habe ich sogar vorgestern gemacht), aber aus anderen Gruenden. In "Herr Lehmann" baut Sven Regener mit seinem Schreibstil die Art auf, wie Frank Lehmann lebt und vor allem wie er denkt. Und dieser Stil wird in neue Vahr Sued noch mehr genutzt, noch weiter ausgefuehrt und angewandt. Insofern hast du Recht: durch die sich wiederholenden Gedanken, Geschehnisse und Gespraeche gehen Sprizigkeit und Pointierungen ueber die Masse der Worte verloren, aber gerade dadurch wird wieder ein neuer Witz erreicht. Es werden viele skurile Situationen aufgebaut, die einfach so absurd wirken, dass ich beim Lesen schwer darueber lachen musste. Haette mich in solchen Momenten jemand gefragt was denn da so komisches staende, haette ich keine Antwort geben koennen, denn es ist ja eigentlich nicht lustig. (Ich denke hier an Momente wie am ersten Tag beim Bund, als die neuen Soldaten marschieren ueben sollen.)
Auf diese Art ist "Neue Vahr Sued" fuer mich schon witziger aufgebaut als "Herr Lehmann". Oder zumindest anders witzig.
Sollte jemand "Neue Vahr Sued" als erstes der beiden Buecher lesen koennte es leichter passieren, dass er davon gelangweilt ist. Wie gesagt ist alles sehr viel ausschweifender und staendig wiederkehrend dargestellt. Es wurden auch Nebenpersonen staerker charakterisiert als im duenneren Vorgaengerbuch. Ich persoenlich musste mich mit "Herr Lehmann" ins Regener und Lehmann Universum einlesen und hatte danach genauso viel Spass an "Neue Vahr Sued".
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14.02.2005 14:28
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pfeifenkrautler
Honk
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Zum Thema Redundanz hatte die Süddeutsche Zeitung ein interessante Meinung (zusammengefasst von perlentaucher.de):
Die Jugend- und Selbstfindungsgeschichte von Frank Lehmann, der im Bremer Stadtteil Neue Vahr Süd heranwächst, aus Trägheit beim Bund landet und später in eine linke WG wechselt, ist viel weniger komisch als die Kreuzberger Slackergeschichte des erwachsenen Herr Lehmann. "Es ist nämlich so", schreibt Maidt-Zinke, "als hätte Regener, um Frankies Frühphase mit größtmöglicher Authentizität wiederzugeben, sich auch erzähltechnisch auf eine Vor- und Schwundstufe zurückversetzt, auf ein Niveau, das von der schlitzohrigen Schlaffheit und träumerischen Trinker- Sophistik des Herrn Lehmann noch meilenweit entfernt ist." Die Erzählung ist also nicht klüger als ihr Protagonist und muss sich seinem Lebenstempo anpassen.
Das hat was, das würde die etwas schlichte und lineare Erzählweise als geschickt benutztes Stilmittel erklären.
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14.02.2005 17:23
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Waldelb
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Moeglicherweise haben die unterschiedlichen Vorzuege etwas mit dem eigenen Leben zu tun. Ich bin zur Zeit Frank, entdecke meine Leben irgendwo darin wieder. Du dagegen bist vielleicht eher Herr Lehmann...
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14.02.2005 17:42
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pfeifenkrautler
Honk
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Du bist 20 und ich 34. Wäre auch eine Idee.
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02.03.2005 19:11
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RV
Krampfhenne
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Italienische Männer, auch wenn sie keine Operntenöre sind, wissen stets, wie man sich akustisch in Szene setzt. Übertragen auf Spielzeug zu Weihnachten heißt das: Ein Geschenk, das keine Geräusche macht, ist etwas für Taubstumme oder Deutsche.

Ein wunderbares Buch. Lange nicht mehr so dauerhaft beim Lesen gegrinst oder in herzhaftes Lachen ausgebrochen. Und - irgendwie hatte ich andauernd den Eindruck, meine Familie sei doch italienisch und hat mir mein ganzes, kurzes Leben nur was vorgegaukelt. Aber eigentlich bin ich davon überzeugt, dass jede Familie irgendwie italienisch ist. Oder kommt Euch sowas nicht bekannt vor?:
Sein Name sei Marcipane und er habe seine Familie dabei. Ob man es hinkriegen würde, sie alle mit Speisen und Getränken zu versorgen, bitte schön.
[...] Stühle und Tische werden hin und hergerückt, und dann setzt sich meine Familie, was eine Weile dauert, weil immer erst einmal darüber diskutiert werden muss, wer denn nun wo Platz nimmt. Tante Maria kann nämlich nicht mit dem Rücken zur Wand sitzen, das ist ihr zu ungemütlich. Onkel Raffaele hingegen will nur mit dem Rücken zur Wand sitzen, weil er praktisch taub ist und Stimmen nur orten kann, wenn er weiß, dass hinter ihm niemand sitzt. Mir ist es im Prinzip egal, wo ich sitze, aber ich möchte schon bei Sara sitzen, weil ich sonst keiner Unterhaltung folgen kann. Sara wiedrum will in die Nähe ihrer Mutter und Ursula nicht an die Tür, wo aber Toni unbedingt sein muss, damit er die Küche im Auge behalten kann, was hier ja dringend vonnöten ist. Die andere Tante Maria findet den Platz gegenüber von Onkel Egidio zugig, und Marco würde gerne irgendwo sitzen, wo er schnell aufstehen kann, wenn sein Telefonino klingelt. Gianluca möchte den Platz neben Barbara, und wo die sitzen will, weiß keiner, denn sie steht noch vor der Tür und telefoniert [...]
Der Autor scheint aus einer gänzlich anderen Familienstruktur zu kommen, denn er beobachtet die Familie seiner Frau Sara mit Spannung und wird irgendwann nach ihnen süchtig, wie mir scheint. Ich kann es verstehen. Italiener sind herrlich. Völlig irre, aber ich liebe sie. Ich liebe das Buch. Danke, Triskel.
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02.03.2005 19:20
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Triskel
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Juhuuuuuuuu!
*strahl*
Bitte, bitte.
Ich liebe das Buch auch. Und mein Gesichtsausdruck beim Lesen muss deinem sehr ähnlich gewesen sein: ein Grinsen bis über beide Ohren. Man bekommt fast Muskelkater davon. Aber nur fast, weil man ja auch immerwieder richtig Lachen muss, dass entspannt die Grinsemuskeln.
Ich kenne leider keine italienische Famile näher, dann wäre das Buch bestimmt noch besser. *nicknick* Aber auch ich hab meine Familie an manchen Stellen wiederentdeckt. *wiedergrinsenmuss*
"Maria, ihm schmeckts nicht!" *kicher*
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02.03.2005 19:26
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RV
Krampfhenne
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Triskel, jetzt muss ich schon wieder grinsen. Wir könnten jetzt den ganzen Thread mit insidern zupflastern .... *gggg*
Ich sag nur Panettone. *kugel* Oder .... hrmpf *Bauchhalt* .... schwimmen lernen. Soooo witzig.
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Ihr kennt sicher alle den Film. Ich nicht. Aber jetzt wenigstens das Buch. Wie unglaublich diese Lebensgeschichte ist.
Anfangs hatte ich Probleme, mich in den Umgangston einzulesen und die ganzen 'Rechtschreibfehler' zu überlesen, aber es ist schließlich ein Briefbuch, geschrieben von einer Frau, die gerade mal eine Grundbildung genossen hat. Vom Stiefvater misshandelt und geschwängert und schließlich an den Verehrer ihrer jüngeren Schwester verkauft wurde.
Menschen können sich verschließen und viel über sich ergehen lassen, bis irgendwann einmal das Maß voll ist. Wie bei Celie, der Erzählerin. Immer duldsam, bis sie herausfindet, wie sehr ihr Gatte sie hintergangen hat. Da will sie ihn nur noch töten, was sie zum Glück nicht tut. Aber sie verlässt ihn, wächst über sich heraus, findet zu sich und ihrem Selbstwertgefühl - alles, weil sie Freundschaft kennen lernt. Das ist toll. Kann mir jemand den Film ausleihen?
[Dieser Beitrag wurde von RV am 02.03.2005 um 19:26 editiert]
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07.03.2005 23:28
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Ramujan
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Ich hatte den Film mal auf Video, glaube aber nicht, dass es ihn noch gibt. Macht nicht's, die DVD liegt im Mittelpreissegment, du kannst sie dir bei Amazon für knapp fünfzehn Euro kaufen.
Ich habe übrigens einen neuen Literaturkritiker. Während Marcel Reich-Ranicki eher pensionierte Oberstudienräte bedient und Elke Heidenreich gleiches für die moderne (Haus-)Frau ab vierzig leistet, sind die ZEIT-Literaturbeilagen ähnlich schwer konsumierbar wie das meiste andere Feuilleton-Geschnatter. Denis Scheck dagegen scheint einen Buchgeschmack zu haben, an dem ich mich halbwegs entlanghangeln kann. Er moderiert im Ersten einmal monatlich die Sendung Druckfrisch, die ich zwar noch nie gesehen habe, deren
Homepage ich aber schon mal nicht schlecht finde. Sehr schön: Die Kommentare zur aktuellen Top-Ten.
Diese Kurzkritiken sind flott geschrieben, oft bissig und, wie ich finde, recht witzig, wenn ihm das, was er da an Buchstaben zwischen den Deckeln gefunden hat, gar nicht gefallen wollte. So verreißt er beispielsweise ein Buch von Ildikó von Kürthi:
Zitat: Dies ist ein Buch für Menschen wie die Hauptfigur Elli, Menschen, denen es bei McDonalds richtig gut schmeckt, die klassische Musik langweilig finden, deren Aufmerksamkeitsspanne für einen "Zeit"-Artikel nicht ausreicht und denen "Star Wars" intellektuell zu anspruchsvoll ist. Solche Menschen nennt Ildikó von Kürthi Frauen. Wir aber, wir Leser, wir nennen solche Menschen dämlich, und Autoren, die solch überlebte Rollenbilder transportieren, die nennen wir reaktionäre Sautreiber des gesellschaftlichen Rollbacks – aber bloß, wenn wir gute Laune haben.
Es ist immer wieder schön, Vorurteile bestätigt zu sehen.
Andererseits traut er sich auch, Lobendes zu Autoren zu schreiben, deren Werke andere Kritiker nicht einmal mit Asbesthandschuhen und Grillzange anfassen würden. Walter Moers nennt er einen grossen Schriftsteller.
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the
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08.03.2005 08:29
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Ludy
Chief Resident
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Zu Weihnachten hat jeder aus der Deutschlandfunk-Literaturreaktion Empfehlungen für den Gabentisch abgegeben.
Zitat: Denis Scheck
Belletristik:
Antje Ravic Strubel: "Tupolew 134"
Verlag C.H. Beck, 320 Seiten, 19,90 Euro
Sachbuch:
Henner Löffler: "Wie Enten hausen. Die Ducks von A bis Z"
Verlag C.H. Beck, 469 Seiten, 24,90 Euro
Bildband:
Michael Martin: "Die Wüsten der Erde"
Frederking & Thaler, 372 Seiten, 231 Farbfotos, 50,- Euro
Hörbuch:
"Liselotte von der Pfalz"
Ihre Briefe gelesen von Christa Berndl, Hörkunst bei Kunstmann, 17,90 Euro
Die Sendung (~20 Minuten) kann man hier nachhören.
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Manche leuchten, wenn man sie liest.
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13.03.2005 19:41
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Mike Hat
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Mike Hat liest einen Frauen-Roman! 

Anfang des Jahrhunderts reist Baron Otto von Ottringel in Begleitung seiner Ehefrau und einer Bekannten mit Pferd und Wohnwagen durch Südengland. Was sich während der Reise ereignet, erfährt der Leser aus der Sicht des dünkelhaften, deutschnationalen, demokratie- und frauenfeindlichen Barons. Der Roman, den die satirische Zeitschrift "Punch" nach seinem Erscheinen 1909 zu den "geistreichsten und amüsantesten Geschichten des Jahres" rechnete, ist wohl der witzigste, den Elizabeth von Arnim je geschrieben hat. Mit gnadenlosem Spott traktiert sie eine Gesinnung, die ihr während ihrer Jahre in Deutschland auf Schritt und Tritt begegnet sein dürfte.
Ich muss sagen, ich habe in der letzten Zeit kaum ein anderes Buch gelesen, das es in Sachen Witz und Ironie mit Arnims "Reisegellschaft" aufnehmen kann, von den Moers-Romanen einmal abgesehen. Das Buch stand, von einer Bekannten geliehen, noch ungelesen bei uns zu Hause im Regal, und ich habe es ohne große Erwartungen begonnen; eigentlich nur deshalb, weil es sich eben auch um einen Reiseroman handelt - die lese ich immer gerne. Den Reiz machen jedoch tatsächlich die selbstgefälligen Bemerkungen des Ich-Erzähles Baron Ottringel aus, der allen Chauvinisten dieser Erde zum Vorbild gereichen müsste und der natürlich die britischen Eigenarten aus Sicht eines extrem pedantischen, preußischen Offiziers kommentiert:
"Als ich so dahinschritt, müssen die Leute wohl gemerkt haben, dass ich ein preußischer Offizier bin, denn viele schauten mich interessiert an. Hätte ich doch meine Uniform und meine Sporen angehabt, damit die memmenhafte Insel einmal einen richtigen Soldaten gesehen hätte! Ich kam mir komisch vor inmitten von lauter Zivilisten. Obwohl es noch so früh am Morgen war, spie jeder ankommende Zug Myriaden derselben beiderlei Geschlechts aus. Keinen einzigen Uniformknopf sah man blitzen, keinen einzigen Säbel hörte man klirren; aber – wird man mir das glauben? – mindestens einer von dreien, die ankamen, trug, oftmals in Seidenpapier gewickelt und stets so vorsichtig wie ein besonders gutes belegtes Brötchen, einen Blumenstrauß. Das schien mir für die verweichlichte, unmilitärische Nation sehr charakteristisch zu sein. In Preußen tragen manchmal nutzlose Personen wie alte Frauen Blumensträuße von einem Punkt zum anderen -, aber dass man einen Mann so sehen würde, einen Mann, der augenscheinlich in sein Büro ging, mit seiner Aktentasche und ernstem Gesicht, das war ein Anblick, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Dieses unmännliche Gebaren verblüffte mich ungemein. Ich könnte ja verstehen, dass man sich ein Päckchen mit etwas zum Naschen mitbringt, irgendeinen Leckerbissen aus der häuslichen Küche – aber einen Blumenstrauß! Na schön, sollten sie doch weitermachen mit ihrer Verweichlichung. Zu allen Zeiten war sie es, die dem Untergang eines Volkes vorausging, und das fette kleine Land wird eines Tages ein köstlicher Bissen im kräftigen Rachen eines kontinentalen (und mit nahezu absoluter Sicherheit deutschen) Raubtiers sein."
So klingt er am Anfang der Reise, bevor es sich als ziemlich einfältig, ungeschickt und – nun ja – wehleidig erweist. Unbelehrbar wie er ist, lernt er jedoch aus alledem nichts, sondern er steigert sich im Gegenteil immer mehr in seine immer absurderen Betrachtungsweisen.
Elizabeth von Arnim hat einen wunderbar spöttischen Humor, dabei machen die recht launigen Reisebeschreibungen Lust, wieder einmal die Insel zu besuchen. Sehr zu empfehlen.
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