Der Gedicht-Thread


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Post 25.05.2004 12:08 Post
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Kaylee



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Registriert: Jan 2004
Beiträge: 4029
Von wann ist das Gedicht denn....?!

Bei 'braun' muss ich in solchen Texten ja immer an den Nationalsozialismus denken...

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Post 25.05.2004 12:17 Post
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Emily



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Registriert: May 2004
Beiträge: 9
Ein Hallo in die Runde und weiterführend ein paar Gedanken zu diesem beeindruckenden Gedicht:

Kinder symbolisieren Unschuld. Liegt deren Unschuld nicht aber begründet in ihrem erst kurzem Dasein auf dieser Welt, sprich darin, dass sie noch nichts gesehen (=blind) haben?

Schuld und Unschuld ist meiner Meinung nach zentraler Kern des Gedichts, symbolisiert durch Natur (Unschuld) und Mensch (Schuld). Zum einen kommt die Abwendung des Menschen von der Natur zum Ausdruck. Ein gutes Beispiel hierfür ist die im ersten Fall genannte Uhr: Zeit, Bild für Vergänglichkeit, Leben und Tod, wird gemessen.
Zum anderen wird die Gefügigmachung der Natur durch den Menschen durch die "Vermenschlichung" natürlicher Vorgänge dargestellt: der Mond verlässt sein Bett, die Nacht hat einen Schlund und schlingt, ein Windstoß lacht).

Zudem halte ich es für möglich, dass er sich selbst nicht einordnen kann. Ist er schuldig oder unschuldig? Ist er der (einsame) Jäger, oder eines der singenden Kinder?

Auch hinter der alles verschlingenden Nacht vermute ich eine weitere Bedeutung: den Tod. Er trifft alles und jeden im Kreislauf der Natur, zu dem, ob er will oder nicht, auch der Mensch gehört, und der Tod ist vermutlich das einzige, das der Mensch sich auch künftig nicht gefügig machen kann. Der Tod steht also jenseits von Schuld und Unschuld, er IST einfach.

Außerdem lese ich aus dem zweiten Vers auch einen weiteren inneren Konflikt Trakls heraus: Geht man davon aus, dass die Nacht ein Bildnis für den Tod ist, würde das bedeuten, dass er auch hier zwischen den Stühlen steht: Lebenserhaltungstrieb (Häuser wehren sich mit spitzen Zähnen) gegen Todessehnsucht (verblasste Hände ersehnen den Schlaf = Erlösung).

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Post 25.05.2004 12:22 Post
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_TylerDurden_



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Registriert: Oct 2002
Beiträge: 2560
Georg Trakl hat lange vor der NS-Zeit gelebt, 1887 ist er in Salzburg geboren worden. Und er wurde nur 27 Jahre alt.

Während seines Pharmaziestudiums in Wien begann er Gedichte zu publizieren und schloß 1910 die akademische Ausbildung ab; anschließend lebte er in Innsbruck. Im 1. Weltkrieg diente Trakl als Sanitätsfähnrich. Zerbrochen am Leiden seiner Zeit, wählte er Anfang November 1914 im Lazarett von Krakau den Freitod durch eine Überdosis Kokain.

1914, schon am Anfang des Krieges.

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Post 25.05.2004 12:27 Post
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Kaylee



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Registriert: Jan 2004
Beiträge: 4029
Danke, Tyler! *verneiig*

Ausserdem hab ich mich innerlich auch schon mit Emilys schönen Deutungsansätzen angefreundet und nach dem was du zu seiner Biografie schreibst, passt es ja auch super, oder...!?

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Post 25.05.2004 12:29 Post
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Sumsi die Schmeißfliege



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Registriert: Nov 2003
Beiträge: 510
Hallo Emily,
Interessante Gedanken, dennoch habe ich einen Einwand.
"Kindermund tut Wahrheit kund"
Kinder in Gedichten stehen oft für Unschuld, ja, aber auch für eine Art *nachwortensuch* ursprünglicher Einsicht in die Dinge. Ein Verständnis der Welt, daß wir nach und nach verlieren.
Deshalb sind "blinde Kinder" die Perversion des Kindes, sie sehen nichts mehr, sie verstehen nichts mehr. Die Menschen lösen sich von der Natur und es gibt kein Zurück. Ein Blinder wird nie sehen lernen.
Diese Perversion wird durch den toten Hund (in der Mythologie mit Treue und Instinkt - wieder: Ursprünglichkeit) fortgesetzt. Der Hund ist tot, er steht nicht bei dem einsamen Jäger. Das macht den Jäger fragwürdig, das "einsam" bekommt eine neue Dimension. Steht der Jäger für den Menschen zwischen altem und neuem Weltverständnis? Noch ein Jäger, aber dafür: allein?
Und der Hund, der auf dem Fluss treibt. Niemand schert sich um ihn. Das ganze Gedicht hat einen morbiden Unterton. Trakl war vermutlich nicht so ein Happy-go-lucky-Typ, mh?

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Post 25.05.2004 12:52 Post
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Emily



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Registriert: May 2004
Beiträge: 9

Ich denke eigentlich, die Blindheit der Kinder stellt diese Art der Perversion nicht dar.

Einerseits ist das menschliche Geschlecht niemals wieder so nah an die Natur gebunden wie in der Kindheit, schließlich sind sie dem Schoß der Natur gerade erst entschlüpft, insofern Zustimmung, als dass sie ein eigenes, schlichtes und reines (unschuldiges *g*) Weltverständnis haben.
Ein Mensch, dem das Augenlicht verwehrt wurde, entwickelt jedoch andere Sinne verstärkt. Die Frage ist also, ob Blindheit tatsächlich einen Mangel darstellt und somit die von dir genannte Perversion begründet wäre, oder ob nicht doch gerade durch diese Blindheit eine reine, gute, erstrebenswerte Sicht der Dinge gegeben ist, und Unschuldigkeit erst ermöglicht. Zudem kann man sich fragen: schließen sich Weltverständnis und Unschuldigkeit nicht eher aus?

Trakl war in der Tat kein glücklicher Mensch. Er hat früh begonnen, Gedichte zu schreiben. Er fühlte sich stets einsam und unverstanden, außer von seiner jüngeren Schwester Gretl, zu der er ein sehr inniges Verhältnis aufbaute... auch sexuell. Nach ihrer Hochzeit stand er unter Schock. Prägend dürfte auch gewesen sein, als er allein in einem Lazarett 90 Soldaten ohne medizinische Hilfsmittel verarzten musste.

Schade, dass nicht auffindbar ist, von wann das Gedicht tatsächlich stammt, dann könnte man es sicher besser einordnen. (Ist er der Jäger, und seine Schwester der tote Hund?)
[Dieser Beitrag wurde von Emily am 25.05.2004 um 13:40 editiert]

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Post 25.05.2004 13:56 Post
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Emily



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Registriert: May 2004
Beiträge: 9
Bestimmte Begriffe scheinen sich durch sämtliche Gedichte zu ziehen. Hier haben wir wieder eine Uhr, einen Hund, Kinder, die Blindheit, den Schlaf, Singen...:

Menschliche Trauer 2. Fassung
G. Trakl

Die Uhr, die vor der Sonne fünfe schlägt -
Einsame Menschen packt ein dunkles Grausen,
Im Abendgarten kahle Bäume sausen;
Des Toten Antlitz sich am Fenster regt.

Vielleicht, daß diese Stunde stille steht.
Vor trüben Augen blaue Bilder gaukeln
Im Takt der Schiffe, die am Flusse schaukeln.
Am Kai ein Schwesternzug vorüberweht.

Im Hasel spielen Mädchen blaß und blind,
Wie Liebende, die sich im Schlaf umschlingen,
Vielleicht, daß um ein Aas dort Fliegen singen,
Vielleicht auch weint im Mutterschoß ein Kind.

Aus Händen sinken Astern blau und rot,
Des Jünglings Mund entgleitet fremd und weise;
Und Lider flattern angstverwirrt und leise;
Durch Fieberschwärze weht ein Duft von Brot.

Es scheint, man hört auch gräßliches Geschrei,
Gebeine durch verfallne Mauern schimmern.
Ein böses Herz lacht laut in schönen Zimmern;
An einem Träumer läuft ein Hund vorbei.

Ein leerer Sarg im Dunkel sich verliert.
Dem Mörder will ein Raum sich bleich erhellen,
Indes Laternen nachts im Sturm zerschellen.
Des Edlen bleiche Schläfe Lorbeer ziert.

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Post 25.05.2004 14:14 Post
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Sumsi die Schmeißfliege



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Registriert: Nov 2003
Beiträge: 510
"...schließen sich Weltverständnis und Unschuldigkeit nicht eher aus? ...."
Nein, wieso? Die Welt zu verstehen, bedarf es vielleicht gerade einer unbeschränkten, unbedarften Sicht auf das ganze. "Menschenkenntnis" im pessimistischen Sinn kann es vielleicht nicht unschuldig geben, Weltverständnis aber schon.

Es ist gemein, blinde Kinder anzugreifen, aber ich habe nicht den Eindruck, daß Trakl auf eine Schärfung anderer Sinne hinauswill. Außerdem ist Blindheit trotz allem eine Behinderung, die durch ein gesteigertes Hörvermögen, kompensiert, aber nicht ausgeglichen werden kann. Blindheit rein negativ zu sehen, ist sicher falsch, es als Glück darzustellen, halte ich für romantische Verklärung. Zumal in Trakls Lebenszeit kaum eine solche Sicht der Dinge alltäglich gewesen wäre.

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Post 25.05.2004 15:02 Post
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Emily



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Registriert: May 2004
Beiträge: 9
Zitat:
Zaratussi schrieb:
Die Welt zu verstehen, bedarf es vielleicht gerade einer unbeschränkten, unbedarften Sicht auf das ganze. "Menschenkenntnis" im pessimistischen Sinn kann es vielleicht nicht unschuldig geben, Weltverständnis aber schon.

Mal anders: kannst du von dir sagen, die Welt im Großen und Ganzen zu verstehen? Mehr vielleicht als Kinder das von sich sagen können?

Zitat:
Zaratussi schrieb:
Es ist gemein, blinde Kinder anzugreifen, aber ich habe nicht den Eindruck, daß Trakl auf eine Schärfung anderer Sinne hinauswill. Außerdem ist Blindheit trotz allem eine Behinderung, die durch ein gesteigertes Hörvermögen, kompensiert, aber nicht ausgeglichen werden kann. Blindheit rein negativ zu sehen, ist sicher falsch, es als Glück darzustellen, halte ich für romantische Verklärung. Zumal in Trakls Lebenszeit kaum eine solche Sicht der Dinge alltäglich gewesen wäre.

Ich stelle Blindheit um Himmels Willen nicht als Glück hin, da habe ich mich wohl falsch ausgedrückt. Aber kannst du dir vorstellen, dass es Menschen gibt, die glücklich darüber wären, wenn sie bestimmte Dinge nie gesehen hätten? Für die Blindheit vielleicht doch ein Segen gewesen wäre?


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Post 25.05.2004 17:14 Post
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Celebrian



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Registriert: Jun 2003
Beiträge: 239
"In engen Stuben blinde Kinder singen."

Diese Zeile hat schon für verschiedene Überlegungen gesorgt, das scheint ein Bild zu sein, das sich nicht restlos auflösen läßt, und vielleicht ist es gerade deshalb so eindrucksvoll. Vor dem Hintergrund der oft schockieren wollenden, drastischen Bilder des Expressionismus stelle ich mir tatsächlich Kinder mit weißen, blind ins Nichts stierenden Augen vor. Blindheit steht ironischerweise oft für Weisheit und Einsicht: Homer war blind, der thebanische Seher(!) Teiresias war blind, Oidipus blendete sich selbst im Moment des Erkennens seiner Verbrechen. Blindheit gegen die konkret faßbare Welt als Bedingung für Einsicht in das nicht konkret Faßbare. Die Kinder könnten also eine Art Einsicht in etwas haben - vielleicht singen sie deshalb bzw. davon? Gesang als Mittel der Verkündung zu sehen dürfte für einen Dichter naheliegen. Aber dieser verhalten positive Eindruck wird gebrochen durch die "engen Stuben" - was immer da an Erkenntnis aufblitzen mag, kann sich nicht befreien.



Zitat:
Emily schrieb: Zum anderen wird die Gefügigmachung der Natur durch den Menschen durch die "Vermenschlichung" natürlicher Vorgänge dargestellt: der Mond verlässt sein Bett, die Nacht hat einen Schlund und schlingt, ein Windstoß lacht.

Eine Gefügigmachung implizierte ja, daß der Mensch als überlegen oder zumindest als zeitweiliger Unterdrücker auftritt, was in dem Gedicht nicht der Fall ist - deshalb denke ich nicht, daß dieser Aspekt von größerer Bedeutung ist. Meiner Ansicht nach ist es eher so, daß die Personifizierungen den Mächten der Nacht und des Todes mehr Bedrohlichkeit und Unberechenbarkeit verleihen.
Ich stimme Dir darin zu, daß der Tod resp. die Vergänglichkeit hier wohl eine zentrale Rolle einnehmen - in vielen der verwendeten Bilder klingt das an: da sind Uhren, schwarze Vögel (Krähen? Raben? Jedenfalls Aasfresser und Unheilsboten), ein schlingender Schlund der Nacht, verblaßte Hände, ersehnter Schlaf, ein toter Hund... Auch der Windstoß im (Schilf-)Rohr ist ein Vergänglichkeitsmotiv: so flüchtig wie dieses Rascheln ist auch das Leben. Es liegt nahe, die Bibel zu assoziieren - alles ist eitel und Haschen nach Wind, und alles Fleisch ist wie Gras.
Am Ende weinen die Nebel – vielleicht trauern sie um das ewige Sterben? Warum sind sie "keusch"?

Typisch expressionistisch sind die ersten beiden Verse der 3. und etwas schwächer auch der 2. Strophe: kurze, lapidare, auf Schockwirkung bzw. Befremdung zielende Aussagesätze, die scheinbar oder tatsächlich nichts miteinander zu tun haben.

Was das raschelnde Rohr betrifft, ist mir eine Strophe eines anderen Trakl-Gedichts in den Sinn gekommen, wo es deutlicher noch mit dem Tod konnotiert ist:


Da nisten Sterne in des Müden Brauen,
In kühle Stuben tritt ein still Bescheiden,
Und Engel treten leise aus den blauen
Augen der Liebenden, die sanfter leiden.
Da rauscht das Rohr, anfällt ein knöchern Grauen,
Wenn schwarz der Tau tropft von den kahlen Weiden.



(*sicheinekurzeSchwärmereigestatt* Für die erste Zeile dieser Strophe allein gebührt Trakl Unsterblichkeit...)


__________________
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
"Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt."
L. Wittgenstein

"Day 200075:
Council very boring. Got to say "DOOM" a few times in v. dramatic voice."
(The very secret diary of Lord Elrond)

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