Der Gedicht-Thread


Boardy.de > Fun, Lifestyle & Freizeit > Tylers Kneipe > Velvet Underground


Neues Thema öffnen  Antwort erstellen       
Verfasser
Der Gedicht-Thread    Dieses Thema ist 30 Seiten lang:    [1]   2   3   4   5   6   7   ...   Letzte Seite >>   < Voriges Thema     Nächstes Thema >
Post 30.04.2004 23:39 PostDer Gedicht-Thread
      Profil von Celebrian ansehen    Suche andere Beiträge von Celebrian Boardy Message an Celebrian schicken         Editieren oder Löschen    Zitieren    Post verschieben
Celebrian



Offline



Registriert: Jun 2003
Beiträge: 239
Ojeee, bis ich herausgefunden hatte, wie man hier ein neues Thema erstellt... der Link sieht aus wie ein Mini-Werbebanner, sowas blendet mein Hirn aus...
*zumThemakomm*


Vorhin erinnerte mich eine PM Tylers daran, daß mich das folgende Gedicht in der FTGR-Nacht aus irgendwelchen alkoholhaltigen Gründen beschäftigte, es ist eins meiner liebsten:


Hyazinthen

Fern hallt Musik; doch hier ist stille Nacht,
Mit Schlummerduft anhauchen mich die Pflanzen:
Ich habe immer, immer dein gedacht;
Ich möchte schlafen, aber du mußt tanzen.

Es hört nicht auf, es rast ohn Unterlaß;
Die Kerzen brennen, und die Geigen schreien,
Es teilen und es schließen sich die Reihen,
Und alle glühen; aber du bist blaß.

Und du mußt tanzen; fremde Arme schmiegen
Sich an dein Herz; o leide nicht Gewalt!
Ich seh' dein weißes Kleid vorüberfliegen
Und deine leichte, zärtliche Gestalt. - -

Und süßer strömend quillt der Duft der Nacht
Und träumerischer aus dem Kelch der Pflanzen.
Ich habe immer, immer dein gedacht;
Ich möchte schlafen, aber du mußt tanzen.

Theodor Storm


Da spricht/träumt/leidet ein liebender Außenseiter: er ist nicht Teil des gemeinschaftlichen Tanzes, wohl aber seine Geliebte. Warum sie tanzen muß, ist nicht klar - empfindet nur der Betrachter das so? Kerzen, Geigen, glühende Tänzer werden bei ihm zu einem bedrohlichen Szenario, aus dem das weiße Kleid und das blasse Gesicht der Geliebten nur um so verletzlicher herausleuchten - entspricht das der Wirklichkeit? Und wenn ja, warum?
Er hat Angst um sie: "o leide nicht Gewalt" - das ist nur formal eine Aufforderung, eigentlich ist es eher wie ein Stoßgebet, Gott, laß ihr nichts geschehen! Er kann nicht zu ihr gelangen, aber Angst und Liebe lassen ihn für sie wachen.
Wo findet wohl dieser Tanz statt? Die Musik hallt "fern" - dringt sie vielleicht von einer Art Ball herüber, wo die Geliebte in irgendwelche Konventionen gezwungen wird? Irgendwie neige ich dazu, auch wenn ich das nicht wirklich belegen kann, mir den Tanz im Wald zu denken, eine Art Feentanz, Walpurgisnacht, was auch immer. Die geheimnisvolle Erotik, die das Gedicht enthält, mag ich nicht in einen plüschigen Ballsaal legen.
Der Hyazinthenduft ist verändert am Schluß des Gedichtes: er ist süßer und träumerischer. Wie kommt das wohl? Einen Trost kann ich nicht entdecken in den Mittelstrophen, auch die Erscheinung der "leichten, zärtlichen Gestalt" steht noch zu sehr unter der Wirkung des "o leide nicht Gewalt", um diese zarte positive Veränderung zu bewirken.
Jedenfalls sind für mich die ersten beiden Zeilen der letzten Strophe das Schönste am Gedicht (auch klanglich - das liest sich wunderbar, irgendwie andachtsvoll-strömend). Die Trauer bleibt, aber der Schmerz scheint gelindert. Vielleicht kann auch im Schmerz eine Harmonie gefühlt werden. Oder die Situation des Liebenden muß aus irgendwelchen Gründen so sein, wie sie ist, und er ergibt sich ein Stück weit in sein Schicksal. Ein Stück weit, aber nicht ganz - denn es werden die beiden Verse aus der ersten Strophe wiederholt, es bleibt das bedingungslose "immer, immer", in dem alle Liebe steht, die sich vielleicht in ihren Handlungen, aber nicht in ihrer Existenz irgendwelchen Gegebenheiten beugen kann, und es bleibt der Gegensatz von "schlafen" und "tanzen", von Tod und Leben.

So schön ich die bekannteren Gedichte von Storm auch finde (Schulkanon: "Über die Heide", "Meeresstadt", "Abseits", "Die Stadt"), "Hyazinthen" mag ich lieber, es ist leidenschaftlicher und geheimnisvoller, und ich habe das Gefühl, daß im Gesagten unheimlich viel Unsagbares mitschwingt - das ist überhaupt ein Grund dafür, warum ich Lyrik so gern habe, meiner Erfahrung nach schafft sie das Paradox, mit Worten Unsagbares auszudrücken, häufiger und leichter als Prosa und Drama.

IP: Logged

Post 01.05.2004 01:49 Post
      Profil von Arbrandir ansehen    Suche andere Beiträge von Arbrandir Boardy Message an Arbrandir schicken         Editieren oder Löschen    Zitieren    Post verschieben
Arbrandir
Schuft


Offline



Registriert: Mar 2004
Beiträge: 866
Geehrte Galadrielstochter,

ich danke Dir -- Du hast meinen Lyrikhorizont soeben nicht nur um ein mir bislang unbekanntes Storm-Gedicht, sondern auch um eine bemerkenswerte Auslegung erweitert. Weißt Du irgendetwas über die Hyazinthen-Symbolik?


Das hier ist auch nicht ohne:

Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden,
in welchen meine Sinne sich vertiefen;
in ihnen hab ich, wie in alten Briefen,
mein täglich Leben schon gefunden
und wie Legende weit und überwunden.
Aus ihnen kommt mir Wissen, daß ich Raum
zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.
Und manchmal bin ich wie ein Baum,
der, reif und rauschend, über einem Grabe
den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe
(um den sich seine warmen Wurzeln drängen)
verlor in Traurigkeiten und Gesängen.


Besonders gefällt mir, wie Rilke traditionell negativ Besetztes umdeutet. Das Dunkle wird liebenswert und Quell sowohl des täglichen (überwindbaren!) als auch eines zeitlos-ewigen Lebens, besonders deutlich in diesem ungewöhnlichen Bild: ein großer, lebendiger Baum ("reif und rauschend"), der seine "warmen Wurzeln" in das Grab (eines "Knaben", also eines nicht eben "reifen und rauschenden" Wesens) gesenkt hat.

Rilke verschwendet nicht viel Sentimentalität an den Tod. Er ist nicht erheblich angesichts des Lebens, das sich aber gerade in den dunklen Stunden und den dunklen Seiten unseres Daseins zeigt. Erst in ihnen und durch ihre Tiefe und Breite läßt sich Vergänglichkeit überwinden, nur durch diese Erfahrungen wird eine Loslösung von Trauer und von den Beschränkungen der Zeit möglich.



Wobei ich gestehen muß, daß auch Storms "Graue Stadt am Meer", obwohl schon so oft durchwandert, mich nach wie vor berührt.

Am grauen Strand, am grauen Meer
Und seitab liegt die Stadt;
Der Nebel drückt die Dächer schwer,
Und durch die Stille braust das Meer
Eintönig um die Stadt.

Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
Kein Vogel ohn' Unterlass;
Die Wandergans mit hartem Schrei
Nur fliegt in der Herbstesnacht vorbei,
Am Strande weht das Gras.

Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
Du graue Stadt am Meer;
Der Jugend Zauber für und für
Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
Du graue Stadt am Meer.



Staubig-funkelnde Bilder meiner eigenen Kindheit steigen da auf. So mystisch-entrückt, so unantastbar in ihrer ganzen Nostalgie können wohl nur unsere frühen, prägenden Erinnerungen in uns leben ...


Herrje. Dieses Posting ist im Zustand heilloser Erschöpfung entstanden. Ich bitte, mir die Sentimentalität nachzusehen.


Es blinzelt und gähnt sich ein verräterisches Glitzern aus den Augen
Arbrandir

[Dieser Beitrag wurde von Arbrandir am 01.05.2004 um 02:52 editiert]

IP: Logged

Post 01.05.2004 14:40 PostRe: Storm: Hyazinthen
      Profil von _TylerDurden_ ansehen    E-Mail an _TylerDurden_ schicken   Suche andere Beiträge von _TylerDurden_ Boardy Message an _TylerDurden_ schicken         Editieren oder Löschen    Zitieren    Post verschieben
_TylerDurden_



Offline



Registriert: Oct 2002
Beiträge: 2560
@Celebrian
Wunderschön! Meine Bilder im Kopf sind nur um wenige Nuancen verschieden. So stelle ich mir den Ort der Musik schon als rauschendes Fest in einem Haus vor, in einer eleganten Villa zum Beispiel, erleuchtet von hunderten Kerzen und Lampions im Garten. Man selbst abseits im Wald. Es kann aber auch, weggehend von Storms Zeit, eine lärmende Dorf-Disse, Metal-Kneipe oder Techno-Club sein; das Prinzip ist zeitlos.

Kennst du das auch, daß manchesmal
Inmitten einer lauten Lust,
Bei einem Fest, in einem frohen Saal,
Du plötzlich schweigen und hinweggehn mußt?


Wenn man sich dann vom tobenden Tanzboden entfernt, die Musik immer leiser von ferne hallt, Lust und Gelächter wie Rauch verstiebt und man sich dann in dunkler Nacht in der stillen Natur wiederfindet, ist die Stimmung ganz ausgewechselt. Das Fest noch im Geiste reflektierend, mit einem Blick zurück beobachtend.
Und dann die wehmütige Anklage, dass Sie tanzen muss.
So ähnlich wie ein altes Ehepaar sich am Autobahnkreuz Wanne-Eickel Ost verfahren hat und Sie giftet, warum Er denn rechts anstatt links abbiegen musste. Oder vielleicht mehr wie eine unabänderliche Naturgewalt, der man leise leidend ausgeliefert ist: Ich habe nur an die Sonne, die scheinende, gedacht, aber es muss ja regnen.
Während sich jedenfalls seine Gedanken nur um Sie drehen, dreht sich sein Objekt der Begierde stattdessen amüsierend um sich selbst.

Kerzen, Geigen, glühende Tänzer werden bei ihm zu einem bedrohlichen Szenario, aus dem das weiße Kleid und das blasse Gesicht der Geliebten nur um so verletzlicher herausleuchten - entspricht das der Wirklichkeit?

Nein, ich würde die Frage verneinen. Die Schreie der Geigen sind nur ihm gräßlich unerträglich. Und ob sein Stoßgebet "o leide nicht Gewalt!" nicht ihm selbst gilt? Er ist verknallt. Er ist eifersüchtig; die Vorstellung fremder Hände an ihrem Herzen (metaphorisch als auch wortwörtlich) quält ihn, nicht Sie.

Aber die mittleren Strophen sind nur ein kurzes Aufflackern. Schlussendlich flüchtet er sich in die Melancholie der letzten Strophe. Er ist kraftlos, müde, poetisch.




[Dieser Beitrag wurde von _TylerDurden_ am 01.05.2004 um 16:49 editiert]

IP: Logged

Post 01.05.2004 15:25 Post
      Profil von Kaylee ansehen    Suche andere Beiträge von Kaylee Boardy Message an Kaylee schicken         Editieren oder Löschen    Zitieren    Post verschieben
Kaylee



Offline



Registriert: Jan 2004
Beiträge: 4029
Zitat:
Nein, ich würde die Frage verneinen. Die Schreie der Geigen sind nur ihm gräßlich unerträglich. Und ob sein Stoßgebet "o leide nicht Gewalt!" nicht ihm selbst gilt? Er ist verknallt. Er ist eifersüchtig; die Vorstellung fremder Hände an ihrem Herzen (metaphorisch als auch wortwörtlich) quält ihn, nicht Sie.

Aber die mittleren Strophen sind nur ein kurzes Aufflackern. Schlussendlich flüchtet er sich in die Melancholie der letzten Strophe. Er ist kraftlos, müde, poetisch.

So ähnlich würde ich das auch sehen. Obschon ich das 'verknallt' etwas relativieren würde, denn könnte nicht auch das Auseinanderdriften eine längeren Liebe beschrieben werden?! Er MÖCHTE schlafen, aber sie MUSS tanzen. In irgendwelche Konventionen gezwungen, wäre noch das Einzige, was diese unterschiedlichen Situationen erklären könnte, ansonsten muss man sich doch fragen, warum er nicht bei dem Tanz dabei ist, wenn er nicht schlafen MUSS, sondern nur MÖCHTE?! Kann er nicht?! Darf er nicht ? ..und nur die Angst und die Gedanken an seine Liebe halten ihn wach, obwohl er lieber ohne Angst schlafen würde?!

Vielleicht ist es aber auch die Angst beim Erkennen der eigentlichen Unterschiedlichkeit der beiden. Ist das Ich habe immer, immer dein gedacht;
Ich möchte schlafen, aber du mußt tanzen.

vielleicht ein Beschwerde in der Art, er hat sich bisher immer nach ihr gerichtet, aber wenn er mal schlafen möchte, kümmert sie sich gar nicht darum, sondern muss unbedint tanzen...?! Das alte Ehepaar aus Tylers Beispiel finde ich da schon recht passend....

IP: Logged

Post 01.05.2004 16:24 Post
      Profil von _TylerDurden_ ansehen    E-Mail an _TylerDurden_ schicken   Suche andere Beiträge von _TylerDurden_ Boardy Message an _TylerDurden_ schicken         Editieren oder Löschen    Zitieren    Post verschieben
_TylerDurden_



Offline



Registriert: Oct 2002
Beiträge: 2560
Zuerst hatte ich da "verliebt" hingetippt, aber das missfiel mir und so habe ich es sofort wieder weggelöscht und durch "verknallt" ersetzt, weil ich es vom Lautmalerischen knalliger fand. Aber du hast recht, das passt noch weniger. Es ist ganz und gar nicht so, dass er leidenschaftlich fühlt, hungrig ist, gierig.

Das Ende einer Beziehung?
Das er nur schlafen möchte, es aber nicht tut, bedeutet, dass er immer noch auf sie wartet (wartete?). Das er aufmerksam und bereit für seine Geliebte blieb. Obwohl sie sich schon von ihm emotional entfremdet hatte. Und seine Entfernung vom Fest, und damit Entfernung von ihr, kann man jetzt als Loslassen interpretieren. Das Ende einer Liebe.



Wobei:
Es kann auch nur das Ende eines stürmischen Flirts gewesen sein. Wer hat es nicht schon erlebt? Auf einem rauschenden Festball verliebt man sich unsterblich auf den ersten Blick, wartet vergeblich an der Bar, dass die Tussi/der Typ endlich mal herkommt, trinkt deshalb frustriert zuviel, pöbelt herum, erbricht sich in die Bowle, prügelt sich wahllos, wird deshalb hochkant rausgeschmissen, und wacht am nächsten Tag mit einem Kater im Straßengraben auf. Die Geliebte kennt ihren Verehrer womöglich nicht einmal.

Ich möchte schlafen [mit Dir], aber du mußt tanzen.

[Dieser Beitrag wurde von _TylerDurden_ am 01.05.2004 um 16:42 editiert]

IP: Logged

Post 01.05.2004 18:19 Post
      Profil von Celebrian ansehen    Suche andere Beiträge von Celebrian Boardy Message an Celebrian schicken         Editieren oder Löschen    Zitieren    Post verschieben
Celebrian



Offline



Registriert: Jun 2003
Beiträge: 239
Wie schön, so viele Reaktionen...


@Symbolik der Hyazinthen
Dazu war ich gestern zu müde - mir geisterte nur noch ein Metamorphosenfetzen durch den Kopf, aber das hilft nicht wirklich weiter: Ovid läßt Orpheus davon singen, wie der junge Spartaner Hyakinthos bei einem Sportunfall das Leben verliert (ein von Apollon geworfener Diskus prallt vom Boden hoch und erschlägt ihn - tragikomisch). *rätsel* Also, dazu fällt mir nichts Kluges ein. Die beiden sind wohl kurzzeitig ein Liebespaar, da finde ich mit Mühe eine Parallele - nämlich die liebevolle Sorge um das Wohlergehen des/der Geliebten sowie den Verlustschmerz:

"Blaß, genau wie der Knabe, wird der Gott selbst, fängt den hinsinkenden Leib auf und sucht ihn bald wieder zu erwärmen, bald das Blut aus der furchtbaren Wunde zu stillen, bald die entfliehende Seele zu halten, indem er Heilkräuter auflegt. Doch umsonst ist alle Kunst: Unheilbar war die Wunde!" (Übers. Gerhard Fink)

Aber ich fürchte, solche gewaltsamen Verbindungen taugen nicht viel, oder habe ich irgendwas Zentrales übersehen? Vermutlich hatten die Hyazinthen sich bedeutungstechnisch komplett vom Mythos gelöst. Oder es kam Storm nur darauf an, den richtigen Duft zu finden - und der schwere, betäubende Hyazinthenduft ist es ja gerade, der dem Gedicht sein Geheimnis verleiht. (Man stelle sich das Ganze mit Rosenduft vor - schauerlichst!)


@Rilke
Zum Weinen schön, vor allem die fünf letzten Zeilen. Ich mag den verlorenen Traum des singenden Knaben nicht gegen das Überirdische gestellt entwertet sehen, und genau das vermeidet Rilke mit dem vorsichtigen Bild des rauschenden Baumes, in dem der erfüllte Traum zur Ahnung wird. (Eigentlich möchte ich "Ahndung" schreiben - es ist doch seltsam, daß eine veränderte Schreibweise und damit zusammenhängend die Einsortierung in eine bestimmte geistige Epoche auch die Bedeutungsnuancen beeinflußt... *wirr*)


Zitat:
Tyler schrieb: Es kann aber auch, weggehend von Storms Zeit, eine lärmende Dorf-Disse, Metal-Kneipe oder Techno-Club sein; das Prinzip ist zeitlos.

Vollste Zustimmung - mir gefällt die Dorf-Disse am besten, oder, wenn man es zeitlich genauer nehmen will, eine Dorfkirchweih. Eben geht mir auch endlich auf, woran mich die Stimmung erinnert: an "Romeo und Julia auf dem Dorfe" - da gibt es ebenfalls wilden Tanz und Unbedingtheit der Liebe, nur mischt es sich. *unbedingtmalwiederlesenmuß*


@Altes Ehepaar am Autobahnkreuz:
Hm, hier kommt es darauf an, was dieses "mußt" bedeutet: Heißt es wirklich "Puuh, ich würd so gern schlafen, aber DUUU mußt ja uuunbedingt tanzen *nerv*"? Dann paßt das Ehepaar, aber das kommt mir einerseits stilistisch unpassend vor ("müssen" in diesem Sinne ist doch sehr umgangssprachlich) und paßt andererseits in seiner genervten Ergebenheit nicht recht in die Stimmung - zu prosaisch. Plausibler ist für mich nach wie vor, daß "müssen" hier in seinem ganz ursprünglichen Sinne gebraucht wird - sie ist gezwungen zu tanzen. Dazu kommt die Bedrohlichkeit der Situation, die Blässe und Zerbrechlichkeit der Tänzerin. Entweder ist der äußere Anstrich der Situation tatsächlich eine komplexe Wahnvorstellung des (eifersüchtigen oder abgewiesenen oder ehemaligen oder sonstwie gehemmten) Liebenden, so daß auch das "müssen" nur seinen Angstvorstellungen entspringt, oder es gibt tatsächlich einen Grund, der sie von außen zwingt zu tanzen. Ich finde gerade das so schön, daß es in der Schwebe bleibt.


Zitat:
Tyler schrieb:Es ist ganz und gar nicht so, dass er leidenschaftlich fühlt, hungrig ist, gierig.
Hungrig und gierig ist er nicht, das stimmt, aber leidenschaftslos auch nicht, finde ich - und wenn es nur die leidenschaftliche Sorge um ihr Wohlergehen ist. Das "o leide nicht Gewalt" scheint mir doch zu sehr auf sie bezogen, als daß es bloße Eifersucht sein könnte (Eifersucht wäre auch schon wieder gierig...). Immerhin schmiegen sich die fremden Arme schon an sie, da würde ein von Eifersucht Zerfressener nicht mehr soviel Angst um sie zeigen, sondern sich selbst viel stärker ins Spiel bringen ("sie gehört mir!!") - und das auch nicht mit einem solchen Stoßgebet, sondern sehr viel aggressiver ("wenn das Schwein sie noch mal anrührt...!"). Was er sagt, ist ein unwillkürlicher Ausruf - hier lügt er nicht, denke ich, auch nicht sich selbst gegenüber, die Sorge um ihr Wohlergehen ist tatsächlich das erste und tiefste, was ihm beim Anblick der fremden Arme in den Sinn kommt, und damit stärker als die eigenen Eifersuchtsgefühle.


Oje, wo ist der Nachmittag hin? Tyler, dieses Unterforum ist garstig, es kostet Zeit... *schonüberjedeMengeneuerdiskussionswürdigerGedichtenachgrübel*

IP: Logged

Post 04.05.2004 16:01 Post
      Profil von Sumsi die Schmeißfliege ansehen    Suche andere Beiträge von Sumsi die Schmeißfliege Boardy Message an Sumsi die Schmeißfliege schicken         Editieren oder Löschen    Zitieren    Post verschieben
Sumsi die Schmeißfliege



Offline



Registriert: Nov 2003
Beiträge: 510
Obwohl das Thema ein anderes ist, habe ich dabei ähnliche Empfindungen:

Die unverstandene Frau

Er band, vorm Spiegel stehend die Krawatte.
Da sagte sie (und blickte an die Wand)
„Soll ich den Traum erzählen, den ich hatte?
Ich hielt im Traum ein Messer in der Hand.

Ich hob es hoch, mich in den Arm zu stechen,
und schnitt hinein, als sei der Arm aus Brot.
Du warst dabei. Wir wagten nicht zu sprechen.
Und meine Hände wurden langsam rot.

Das Blut floss lautlos in die Teppichranken.
Ich hatte Angst und hoffte auf ein Wort.
Ich sah dich an. Du standest in Gedanken.
Dann sagtest du:„Das Messer ist ja fort...”

Du bücktest dich. Doch war es nicht zu finden.
Ich rief:„So hilf mir endlich!“ Aber du,
du meintest nur:„Man müsste dich verbinden“,
und schautest mir wie einem Schauspiel zu.

Mir war so kalt, als sollte ich erfrieren
Du standest da mit traurigem Gesicht,
und wolltest rasch zum Arzt telefonieren
und Rettung holen. Doch du tatst es nicht.

Dann nahmst du Hut und Mantel, um zu gehen,
und sprachst:„Jetzt muss ich aber ins Büro“,
und gingst hinaus. Und ich blieb blutend stehen.
Ich starb im Traum. Und war darüber froh...“

Er band, vorm Spiegel stehend, die Krawatte.
Und sah im Spiegel, dass sie nicht mehr sprach.
Und als er sich den Schlips gebunden hatte,
griff er zum Kamm. Und zog den Scheitel nach.
-------------------------------------------------
Danke Celebrian für diesen Thread, dieses Gedicht, und daß du mich daran erinnert hast, vor Jahren eine Jürgen von der Lippe - Cd geschenkt bekommen zu haben.
Auf der sich auch dieses Gedicht befand.




[Dieser Beitrag wurde von Zaratussi am 04.05.2004 um 16:49 editiert]

IP: Logged

Post 12.05.2004 00:14 Post
      Profil von _TylerDurden_ ansehen    E-Mail an _TylerDurden_ schicken   Suche andere Beiträge von _TylerDurden_ Boardy Message an _TylerDurden_ schicken         Editieren oder Löschen    Zitieren    Post verschieben
_TylerDurden_



Offline



Registriert: Oct 2002
Beiträge: 2560
Auf einer Jürgen von der Lippe CD hätte ich so ein Gedicht nicht erwarten.

IP: Logged

Post 24.05.2004 17:01 Post
      Profil von _TylerDurden_ ansehen    E-Mail an _TylerDurden_ schicken   Suche andere Beiträge von _TylerDurden_ Boardy Message an _TylerDurden_ schicken         Editieren oder Löschen    Zitieren    Post verschieben
_TylerDurden_



Offline



Registriert: Oct 2002
Beiträge: 2560
Eben gefunden:

Die Pendel brauner Uhren nicken leise.
Der Abendmond verlaesst sein bleiches Bett.
Ein Jaeger einsam bei dem Hasel steht.
Die schwarzen Voegel ziehen leichte Kreise.

Gewaltig schlingt der Schlund der Nacht.
Die Haeuser wehren sich mit spitzen Zaehnen.
Verblasste Haende, die den Schlaf ersehnen,
Vielleicht, dass in dem Rohr ein Windstoss lacht.

In engen Stuben blinde Kinder singen.
Im nahen Flusse treibt ein toter Hund.
Die Nebel steigen keusch aus feuchtem Grund
Und lassen ein verwehtes Weinen klingen.

(Georg Trakl)

Es beginnt etwas bieder, mit braunen Uhren die ticken. Biedermeierambiente. Doch dann stürzt es schon in eine geheimnisvolle Atmosphäre, fast einem viktorianischen Schauerroman entnommen, um schließlich vollends abgründig zu enden. Mit der Interpretation tu ich mir sehr schwer. Irgendeine Idee? Arbrandir? Celebrian?

IP: Logged

Post 24.05.2004 22:53 Post
      Profil von Alex. ansehen    Suche andere Beiträge von Alex. Boardy Message an Alex. schicken         Editieren oder Löschen    Zitieren    Post verschieben
Alex.



Offline



Registriert: Aug 2002
Beiträge: 538
Zu Trakl habe ich auch nie so richtigen Zugang gefunden, obwohl er manchmal sehr schön schreibt. Auch hier gefallen mir einige seiner Bilder.
Die zentrale Zeile scheint mir
Gewaltig schlingt der Schlund der Nacht.
zu sein. Es geht darum, wie die Nacht hereinbricht, den Abend verschlingt. Ich sehe das Gedicht vor allem deskriptiv. Ich bin nicht sicher, ob Trakl da mehr vermitteln will als seine Impressionen beim Übergang von der Dämerung zum Abend und in die Nacht. Er wechselt zwischen Bildern aus der Natur (der Mond, die schwarzen Vögel – apropos, welche Vögel ziehen denn so spät noch Kreise? – der Wind im Schilfrohr und die Nebel in der Talaue) und aus dem Bereich des Menschen (Uhren, Jäger, Häuser, Kinder, der Hund gehört als Haustier wohl im weitesten Sinne auch noch dazu). Wieso die Kinder "blind" sind, ist mir unklar. Meint Trakl das wörtlich oder ist das nur ein Bild dafür, daß sie nachts (draußen) nichts sehen können?
Mir kommt es vor, als ob hier der Mensch (mal wieder) mehr oder weniger hilflos gegen die Gewalten der Natur gestellt wird, wobei "Gewalten" schon übertrieben ist, es geht ja "nur" um den Einbruch der Nacht. Und die machen sich einige ja auch zunutze, der Jäger etwa.
Zumindest stellt er die Natur / die Nacht als etwas Unbeeinflußbares, Unabänderliches und dadurch für den Menschen letztlich Unfaßbares dar, während man sich bei den blinden Kindern und dem toten Hund doch fragt, ob man denen nicht helfen kann oder gekonnt hätte.

IP: Logged

  Dieses Thema ist 30 Seiten lang:    [1]   2   3   4   5   6   7   ...   Letzte Seite >>   < Voriges Thema     Nächstes Thema >

Boardy.de > Fun, Lifestyle & Freizeit > Tylers Kneipe > Velvet Underground

Moderator-Operationen:

Thema öffnen/schliessen
Thema löschen
Thema editieren
Thema verschieben
Thema archivieren
Thema sticken

Wer kann im Forum lesen? Mitglieder oder Gäste. - Wer kann neue Themen erstellen? Mitglieder. - Wer kann Antworten erstellen? Mitglieder. - Änderungen: Beiträge können von ihren Verfassern editiert aber nicht gelöscht werden. - Beiträge: HTML ist ausgeschaltet. Smilies sind eingeschaltet. vB code ist eingeschaltet. [IMG] code ist eingeschaltet.

Diese Seite als E-Mail verschicken
Druckbare Version anzeigen

    Neues Thema eröffnen  Antwort erstellen

Velvet Underground | Kontakt

Board gehostet von Boardy - Das Kommunikationsportal - Kostenloses Forenhosting