Haiku


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Haiku    Dieses Thema ist 24 Seiten lang:    1   2   [3]   4   5   6   7   8   9   ...   Letzte Seite >>   < Voriges Thema  
Post 31.07.2004 22:59 Post
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pfeifenkrautler
Honk


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@Mike: Der ist doch gut! Ein echtes Dilemma, eingefangen in drei Zeilen. Wobei "benetzt" nicht so ganz zum eher derben Tonfall des Rests passt.

@Tyler: Der ist vieldeutig? Mmhh..war ganz gradlinig gedacht. Aber das Schöne an Haiku ist ja auch, dass es keine Interpretationsvorgaben gibt, eigentlich darf man Haiku gar nicht interpretieren. Entweder sie lösen eine Vorstellung beim Leser aus oder nicht. Haiku sind Gedichte für Leute, die Gedichtsinterpretationen hassen. Trotzdem würde mich deine Interpretation interessieren.

Und jetzt noch ein peinlicher:

Am Frühlingsmorgen,
von Hauswänden bedrängt
der Himmel, so blau!


Hier hatte ich vorher einfach zuviel Haiku gelesen, der ist nur eine Kopie der Tonart von Gedichten aus einem fernen Land von vor 300 Jahren. Da iat nichts Authentisches dran. Und das ist eigentlich das Wichtigste an Haiku, Authenzität, sie fangen den Moment ein, möglichst ohne gedanklichen Überbau.

Sie müssen wie hingeworfen das Erleben des Augenblicks festhalten. Im Kopf des Lesers verflüssigt sich dann dieser Augenblick wieder zu einem Bild, als würde man eine gefrorene Erinnerung auftauen. Oder auch nicht, dann war es kein guter Haiku. Haiku müssen das Empfinden berühren unter Umgehung des Verstandes. Das ist schwer.

Der hier gefällt mir immer noch:

All diese Decken
auf unseren nackten Körpern -
Winter, nun geh doch!

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Post 01.08.2004 00:28 Post
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Tulkas



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Zum Duft der Astern
des Abends in der Haustür
die Hände falten.

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Post 01.08.2004 00:37 Post
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Kaylee



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*sehrHaikubeeindrucktschau*


mit gefällt das Bild mit den Polaroidsmemos....

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Post 01.08.2004 12:38 Post
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pfeifenkrautler
Honk


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Registriert: Mar 2004
Beiträge: 5344
Kleine Regelkunde

Wozu Regeln?
Haiku sind eine sehr stark reglementierte Gedichtsform, allerdings haben sich bereits die großen Dichter im alten Japan längst nicht immer an die Regeln gehalten. Man sollte die Haikuregeln nicht als von außen auferlegten Zwang verstehen, sondern als selbstgewählte Beschränkung, die einem hilft, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Da ich nun mal kein japanischer Zen-Mönch des 18. Jahrhunderts bin, finde ich es legitim, die Regeln meinem Leben anzupassen.

Das Versmaß
Das hat Tyler ja schon erläutert, 5-7-5. Wie ihr an den zitierten Haiku seht, wird das bereits bei der Übersetzung ins Deutsche hinfällig. Ich versuche, mich an die Silbenregel zu halten, es ist die strengste und gleichzeitig simpelste Regel, die das Haiku quasi definiert, wenn man sie ignoriert, schreibt man irgendwann Sonette. Allerdings halte ich mich nicht sklavisch dran, wenn ein Haiku durch eine Silbe mehr oder weniger einfach besser wird, der "Geist des Haiku" besser getroffen wird, mach ich das auch. Irgendwelche Füllsilben einfügen, damit die Silbenzahl stimmt, widerspricht ja eigentlich auch dem Geist des Reduzierens.

Der Moment
Das habe ich im letzten Posting ja schon behandelt. Haiku sind sowas wie Schnappschüsse, die einen Moment einfrieren. Wichtig ist die Authenzität, es sollte sich wirklich um etwas gerade oder vor kurzem Erlebtes handeln, ohne dass die Erinnerung zuviel vom spontanen Eindruck verwischen kann. Im Vordergrund steht das spontane, unreflektierte Empfinden, möglichst unter Umgehung des rationalen, analysierenden Verstandes. Ein gutes Haiku ist wie ein Schlag auf den Hinterkopf, damit der Groschen fällt. Zack, er fällt oder eben nicht. Dann ist das Haiku nicht gut oder der Leser lässt sich nicht genügend darauf ein oder beides. Das Dilemma ist, wie beim Zen-Buddhismus überhaupt, je mehr man versucht, mit Worten zu erklären, umso weiter entfernt man sich von der eigentlichen Sache. Also besser nicht reden, einfach machen.

Der unsichtbare Beobachter
Im klassischen, "idealen" Haiku taucht der Schreiber nicht auf. Er beschreibt als unsichtbarer Beobachter einen Moment, der außerhalb seiner eigenen Reichweite geschieht, ein Sonnenaufgang, ein Vogel auf einem Ast, Kinder am Fluss. Das Zurücktreten des Schreibers hinter den Moment, den er beschreibt, ist ein wichtiges Stilmittel, um dem Geist des Zen nahezukommen. Im Zen-Buddhismus werden Haiku als Meditationshilfen benutzt, um durch die Konzentration auf einen Moment sich von den Fesseln des eigenen Denkens und Wollens zu lösen.

Andererseits ist auch diese Regel nicht in Erz gegossen. Bei Basho, dem Klassiker, muss man zwar lange suchen, bis man Wörter wie "ich" und "mein" findet, aber es gibt sie. Bei Buson schon häufiger und Issa hat diese Regel recht unbekümmert immer wieder gebrochen, er hat den Schreiber als Person in das Haiku eingeführt. Allerdings mildert er diesen Effekt durch seinen Sarkasmus und seine Selbstironie ab, sein Erzähler ist immer eine jämmerliche Figur, er steht nicht als Held im Vordergrund, sondern muss sich auch weiterhin den Gegebenheiten unterordnen. Er ist eher passiver Beobachter und Erdulder als aktiver Handelnder. Haiku sind eine sehr uneitle Gedichtsform, wem es daran liegt, seine Gedanken und Gefühle der Nachwelt zu hinterlassen, sollte keine Haiku schreiben. Ich bin kein Zen-Meister und sehe Haiku eher als nette Spielerei, die die Beobachtungsgabe schärft, nicht als religiöses Ritual, daher lege ich auch diese Regel etwas freier aus, im Geiste Issas.

Die Jahreszeit
Im einem klassischen Haiku ist immer ein Verweis auf die Jahreszeit, in der er spielt, zu finden. Das kann direkt sein, durch Standarderöffnungen wie "In der Winternacht", "Im Frühlingsregen" ect., indirekt durch die Erwähnung von Blüten oder Früchten (wie es Tulkas so schön vorgemacht hat), oder etwas versteckter durch den Hinweis auf ein Fest, eine Speise, religiöse Rituale oder bestimmte Kleidung.

(Die Standarderöffnungen wie "In der Winternacht" tauchen sehr oft auf und entspringen nicht mangelnder Kreativität der Dichter, sondern entstanden durch die Sitte, in einer Gesellschaft spontan gedichtete Haiku zum Besten zu geben, zur allgemeinen Erbauung. Meist gab der Gastgeber die erste Zeile vor, eben solch ein Standard, und die Gäste haben diese dann zu einem Haiku erweitert. Diese Standards sind eine gute Hilfe, um mit dem Haikudichten anzufangen, sie zwingen einen, direkt loszulegen.)

Die "Jahreszeiten-Regel" ist für den modernen westlichen Großstadtbewohner vielleicht die schwerste und fremdeste, da für ihn die Jahreszeiten keine große Bedeutung mehr haben. In Japan mit seinem extremen Monsunklima ist der Wechsel der Jahreszeiten auch heute noch eine wichtige Unterteilung des Jahres, das Kirschblütenfest z.B. einer der wichtigsten Feiertage. In alten Zeiten, ohne Zentralheizung und Klimaanlage muss das natürlich noch sehr viel prägender gewesen sein. Aber hier steckt auch sowas wie ein "Lustschmerz" drin: der klassische Japaner genießt das Frieren und das Schwitzen, denn es zeigt ihm, dass er lebt und eins ist mit der Natur. Durch die Verknüpfung mit den Jahreszeiten bindet sich der Haiku an den ewigen Kreislauf des Kosmos und der Schreiber tritt wiederum dahinter zurück, wird zum Erdulder.

Ich mag den Wechsel der Jahreszeiten auch recht gerne, aber zum einen wird er hierzulande immer flacher, zum anderen spielen Jahreszeiten für mein entfremdetes Großstadtleben kaum noch eine Rolle, daher gestehe ich mir auch bei dieser Regel gewisse Freiheiten zu. Allerdings ist es eine Befriedigung, wenn man doch irgendwie ein "seasonal theme" unterbringen kann.

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Post 01.08.2004 14:03 Post
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Mike Hat
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Zitat:
mit gefällt das Bild mit den Polaroidsmemos....
Mir auch.

Ein weiterer Versuch, hier stimmt das Versmaß nicht ganz:

Das weiße Pony
trabt wiehernd durch die roten
Chrysanthemenblüten.


Klassisch und kitschig zugleich, nicht wahr?

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Post 01.08.2004 14:26 Cool 2
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Mike Hat
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Beiträge: 1852
Die Idee zu obigem Haiku stammt übrigens aus einem Pratchett-Roman. *zugeb*

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Post 01.08.2004 15:05 Post
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pfeifenkrautler
Honk


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Beiträge: 5344
Erinnter mich an einen der schönsten Haiku überhaupt:

Sie sagten kein Wort:
Der Scheidende, der Bleibende,
die weiße Chrysantheme.


(Ryota)

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Post 01.08.2004 16:00 Post
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Ramujan



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Registriert: Feb 2004
Beiträge: 999
Nicht besonders gut, aber aktuell: Hier ist Sommerkirmes.



Kandierte Äpfel,
die am Kettenkarussell
zu Boden fallen.

In der Schlange nur
angsterfüllte Gesichter
vor der nächsten Fahrt.

Es pulsieren die
Glühbirnen am Riesenrad.
Bald ist Mitternacht.

Kleine und große
Nemos baumeln an Schnüre.
Jedes Los gewinnt.



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Post 01.08.2004 16:11 Post
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Kaylee



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Beiträge: 4029
wieso nicht gut???

Es riecht geradezu nach gebrannten Mandeln!

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Post 01.08.2004 18:11 Post
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Arianrhod



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Beiträge: 149
Oh, wie schön, ein Haiku-Thread! Das erinnert mich sogleich an meinen Deutsch-Grundkurs in der Schule. Unser Lehrer hatte uns die Aufgabe gegeben, ein Haiku zu schreiben, und ich war ganz begeistert davon. Und weil es auch noch mein Lieblingslehrer war, habe ich ihm dann nach dem Abitur einen Kalender "Aquarelle und Haiku" geschenkt und zu jedem Bild noch ein Haiku gedichtet. Leider finde ich die jetzt nicht mehr und aus dem Gedächtnis fallen mir spontan lediglich drei davon ein:

Ganz leise murmelt
der kleine Bach am Hügel.
Erzählende Stille.

Ein Nebelschleier
liegt dort über dem Garten,
bedeckt auch mein Herz.

Vergoldete Welt.
Mein Herz atmet den Frieden
der Abendsonne.


Die beiden letzten sind vermutlich schon kein Haikus im klassischen Sinne mehr, weil das Innenleben des Beobachters zu stark sichtbar wird. Aber unsere Kriterien damals waren noch nicht so ausgefeilt wie jene, die der pfeifenkrautler oben beschrieben hat.
__________________
"But no living man am I. You look upon a woman."

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