03.10.2004 20:30
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Kaylee
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Was ich immer noch nicht so richtig begreife, ist der Zusammenhang der Wörter eines Haikus. Sind es Sätze? Müssen es Sätze sein? Wie ineinandergreifend?? Fragen über Fragen…
Gimli, ohne zu wissen, ob es wirklich besser wäre, würde ich vielleicht in deinem letzten haiku auch die Reihenfolge deiner Erzählung aufnehmen. Das wäre dann:
Die Kälte der Nacht
Ein Hund hält einsam Wache
Ein Berg von Decken
Da ist die Fokussierung des Blicks von Weit zu Nah… und die erzeugte Stimmung konkretisiert sich immer mehr. Für mich jedenfalls… *sofortmaleineJackeholengeh*
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03.10.2004 21:34
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pfeifenkrautler
Honk
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So, mein Rundumschlag:
Mike Hat I: Finde ich heikel, da er nur für Superinsider verständlich ist. Ich weiß selber kaum noch, um welche Herbstdiskussion es ging. In 200 Jahren wird ihn niemand mehr verstehen. Außerdem hatte die Diskussion nichts mit Herbst zu tun und Wortspiele in Haiku find ich auch schwierig, da der Verstand angesprochen wird und der Wortwitz des Dichters sich in den Vordergrund stellt. Ist mir als Haiku zu verschlüsselt und zu "eitel". 1 Punkt
Mike Hat II: Besser. Ein Moment wird eingefangen, der Moment der letzten Sonnenstrahlen, die die Wohnung erreichen. Giebelfenster klingt nach kuschliger Dachkammer und gurrenden Tauben, die sich ihren Schlafplatz suchen. Das "entschwindet" ist mir zu altmodisch, würdest du das selber so sagen? "Sieh an, der Tag entschwindet.." Das stört mein Bild von Mike in seiner Dachstube am Rechner sitzend, da sehe ich plötzlich Goethe die Feder in die Tinte tauchen. "Der Tag geht" oder so würde die Sache runder machen. 3 Punkte
Kaylee: Schönes Bild, aber ich habe einige Probleme mit: einmal ist es nicht wirklich ein Moment, sondern eher eine Stimmungsbeschreibung. So würde es auch noch drei Stunden später aussehen oder am nächsten Tag. Da fehlt die zeitliche Fokussierung, eine Bewegung, die es nur in diesem Moment gibt. Über das Problem mit Adjektiven schrieb ich ja schon, "gold-grüner Wald" klingt mir zu sehr nach Rilke und deutscher Romantik. Und wie schwellern Eckern und Eicheln? Ist das eine sichtbare Bewegung? Ist das nicht eher eine poetische Umschreibung? Ich stehe ja mehr auf die ganz reduzierten Haiku, aber wie ich sagte, gibt es verschiedene Schulen und du scheinst einer etwas poetischeren Richtung anzugehören. Mir ist der Haiku zu versponnen, aber er hat poetische Kraft, eine Stimmung wird entworfen, ein Bild entsteht. 3 Punkte.
Tyler: Gefällt mir, originell und modern und trotzdem sehr klassisch. Das Kind muss nicht auftauchen, es steckt im typisch kindlichen Ausruf drin. Der Ort wird skizziert, dann das nähere Umfeld. Hier finde ich "Wurst und Käse" etwas zu allgemein, wie schon jemand schrieb wären Sommerwaren, Obst und Gemüse, prägnanter, würden den Bruch, den der viel zu früh ausliegenden Lebkuchen darstellt, besser betonen und die Jahreszeit klarer machen. Denn theoretisch könnte die Szene so auch im Dezember spielen, mit einem Kind, was bis dahin noch keinen Lebkuchen gesehen hat oder Lebkuchen so arg mag, dass es jedesmal in Entzückung gerät. 5 Punkte
Gimli I: Ein Moment wird eingefangen, das ist gut. Aber er bleibt beliebig. Herbstmorgen, die Sonne am Horizont, das ist soweit klar, eine Szene, die jeder kennt und sich prima vorstellen kann. Jetzt müsste in der dritten Zeile der "Twist" kommen, der Fokus auf ein spezielles, einzigartiges flüchtiges Detail, das dir in diesem Moment auffiel. Aber es kommt nur eine Wiederholung, denn dass die Sonne keine Kraft hat, steckt bereits im frühen Herbstmorgen drin. Soweit war ich als Leser schon, ich hab bereits gefröstelt und den Mantelkragen hochgeschlagen, du sagst mir nichts Neues. Jetzt will ich hören, was an diesem typischen kalten Herbstmorgen passiert ist, was soll ich anschauen, wohin lenkst du meinen Blick? Da fehlt was. 2 Punkte
Gimli II: Schon viel besser, auch wenn ich den Haiku spontan als Winterhaiku einordnen würde. Eine recht trostlose, kalte, bittere Stimmung wird erzeugt. Ich seh einen frierenden Hund neben einem Müllhaufen sitzen, dahinter stelle ich mir weihnachtlich erleuchtete Fenster vor und vermummte Menschen, die vorüberhasten.. Aber das ist okay, du hast eben in diesem Moment eine recht trostlose Herbstsicht. Interessant, den Haiku neben Kaylees zu stellen, zwei völlig unterschiedliche Herbststimmungen. Leider seh ich den Penner nicht. Ich wär nicht drauf gekommen, dass unter den Decken jemand liegt, da solltest du etwas genauer werden. Das würde auch dem "Wache stehen" des Hundes sofort mehr Sinn verleihen. So sehe ich es mehr als Metapher, denn warum sollte ein Hund einen Haufen Decken bewachen? Das Erkennen des Menschen unter den Decken wäre ein guter Haikumoment, der sollte mit rein. 3 Punkte
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03.10.2004 21:45
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pfeifenkrautler
Honk
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Zitat: Kaylee schrieb:
Was ich immer noch nicht so richtig begreife, ist der Zusammenhang der Wörter eines Haikus. Sind es Sätze? Müssen es Sätze sein? Wie ineinandergreifend?? Fragen über Fragen…
Es gibt keine Regeln, es gibt nur Ziele.. 
Überleg dir, was dir hilft, deinen Haikumoment zu vermitteln. Da ein Haiku über eine reine Stimmungsbeschreibung rausgehen sollte, sind Sätze nicht zu verachten. Müssen aber nicht sein. Issa schrieb z.B.:
Ein Mensch,
eine Fliege,
im Raum.
Der ist natürlich sehr reduziert. Issa schrieb auch in ganzen Sätzen:
Der Diener,
ein bißchen dumm,
schippt auch den Schnee vom Nachbarn.
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03.10.2004 22:03
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Kaylee
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Zitat: der pk schrieb:
Gimli II: (…) So sehe ich es mehr als Metapher, denn warum sollte ein Hund einen Haufen Decken bewachen? Das Erkennen des Menschen unter den Decken wäre ein guter Haikumoment, der sollte mit rein.
Gerade dieses 'warum' macht für mich allerdings genau den Haiku-moment aus. Man erkennt durch die eigene Frage, dass mit den Decken etwas besonderes los sein muss und erkennt dann eine schemenhafte Figur. Das könnte eine Verbindung der einzelnen Fragmente aber vielleicht noch verstärken. Wie wärs hiermit:
Die Kälte der Nacht
Ein Hund hält einsam Wache
an einem Berg Decken
oh…apropos Hund…*aufspring* *Leineschnapp*
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03.10.2004 22:06
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Mike Hat
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Die Kälte der Nacht
Ein Hund hält einsam Wache
an einem Berg Gimli
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03.10.2004 22:11
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pfeifenkrautler
Honk
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Klassische Herbsthaiku:
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Ich gehe,
du bleibst -
zweifacher Herbst.
(Shiki)
Schön, nicht? Ein Liebeshaiku, die sind selten.
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Der Bauer beim Rübenziehen
zeigt den Weg
mit einer Rübe.
(Issa)
Der ist vertrackt, ein Beispiel für eine "versteckte Metapher". Denn dass Metaphern eher hinderlich sind, heißt nicht, dass ein vordergründig klarer Haiku nicht auch auf einer zweiten Ebene als Metapher funktionieren könnte. Vordergründig sieht man einen Moment: ein Reisender fragt den Bauern nach dem Weg, der richtet sich auf und zeigt mit erdverdrecktem Arm die Richtung. Da er grade eine Rübe in der Hand hält, benutzt er sie als Zeigestock, eine sehr bäuerliche, robuste Geste, ein schönes Bild.
Auf einer zweiten Ebene könnte man interpretieren: Jeder benutzt das, was er hat und jeder gibt seine Antworten anders. Wenn du einen Bauer fragst, wirst du immer eine bäuerliche Antwort bekommen, man sollte in sein Urteil über andere deren Lebenshintergrund miteinbeziehen. Oder so.
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Ein Eimer ohne Boden
rollt und rollt
im Herbstwind
(Buson)
Und das 200 Jahre vor der Erfindung des Italowesterns...
Auch wieder ein Bild, dass über den eigentlichen Moment hinaus eine Stimmung vermittelt, die sich auch philosophisch betrachten ließe: vom Leben getrieben, ziellos, angeschlagen, immer in Bewegung..die Jahreszeiten fliegen, wir fliegen mit und werden nicht jünger dabei..
Man weiß nicht, ob der Dichter an sowas dachte, der Haiku überlässt es uns, uns sowas vorzustellen. Wenn wir nicht wollen, bleibt immer noch ein einwandfrei funktionierender Herbsthaiku.
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Herbstnacht.
Das Loch in der Tür
spielt Flöte.
(Issa)
Ein Beispel für eine "erlaubte" Metapher. Natürlich spielt das Loch nicht wirklich Flöte, aber hier verstellt die Metapher nicht den Blick aufs Reale, sondern vermittelt einen ansonsten nur schwer zu erklärenden Umstand kurz und einleuchtend.
Ganz konkret müsste Issa sagen: "Der Wind, der durch das Loch in der Tür weht, erzeugt flötentonartige Geräusche". Zu kompliziert für einen Haiku. "Das Loch spielt Flöte" fasst das prägnant zusammen, hier wird eine Metapher als Abkürzung benutzt und dient damit dem Erreichen des Haikumoments mehr als sie ihm durch ihre Verschlüsselung schadet. Man muss sie immer noch erst übersetzen, aber das geht schneller, als den konkreten physikalischen Vorgang zu schildern.
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Es ist nicht leicht,
ein Mensch zu sein,
an einem Herbstabend.
(Issa)
Oder so..
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03.10.2004 23:17
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Kaylee
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Zitat: der pk schrieb:
Es ist nicht leicht,
ein Mensch zu sein,
an einem Herbstabend.
(Issa)
…und erst Recht nicht einer mit Hund!
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05.10.2004 12:25
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Kaylee
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Zitat: der pk maulte:
Kaylee:(…) Da fehlt die zeitliche Fokussierung, eine Bewegung, die es nur in diesem Moment gibt. (…) Und wie schwellern Eckern und Eicheln? Ist das eine sichtbare Bewegung?
Du willst wissen wie Eicheln schwellen?! *eineAugenbrauehochzieh* Bevor ich dir das erkläre (…obwohl *aufdieUhrschau*, RV müsste auch jeden Moment kommen, da könnte sie vielleicht einspringen, sie ist ja schliesslich Lehrerin und soweit ich weiss, wollte sie ein ähnliches Thema anschneiden), ändere ich den letzten Satz in:
eisiger atem
in gold-grünem wald
knacken eckern und äste
Mehr Moment?! Dieses ständige Knacken von Eicheln, Ästen und allem möglichen, das der Wind im Wald auf den Boden schmeisst, erstaunt mich jeden Morgen wieder. Also Bewegung isses…
Aber wie willst du eine Farbbeschreibung hinkriegen, ohne Farbadjektive zu benutzen? Schliesslich ist das besondere am Herbst doch die verschiedenen Farben und ein Blatt ist an sich ja eher grün. Wenn man jetzt eine andere Farbe hervorheben will, muss man sie doch nennen, oder?! Oder wäre 'gelb-grün' weniger poetisch? *sinnier*
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