06.12.2004 23:47
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Ramujan
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Hinter der sechsten Klappe des Entomologischen Adventskalenders befindet sich: Der Wasserläufer ( Gerris Lacustris).
Nebelschwaden wabern über den Teich wie Weihrauch über Altar und Ambo; Blätter und Zweige rascheln sakrale Gesänge am Anbeginn des Tages; die Lichtstrahlen schießen so bunt durch Trauerweide, Birke und Eiche, als ob sie ein Domfenster durchstoßen hätten; das Ufer hat die Form eines Apsis.
Der Wasserläufer verlässt sein Versteck, um einen Morgenspaziergang zu machen. Unter ihm kräuseln sich die Wellen, um ihn herum hält die Welt in Ehrfurcht inne: Die Stichlinge neigen ihre Köpfe; der Wels verhaart am Grund, während der von ihm aufgewirbelte Schlamm zurück zu Boden sinkt; der Hecht murmelt ein stummes Gebet - nur seine Kiemenklappen bewegen sich noch.
Der Wasserläufer grinst sich einen. Was für Idioten! Was für ein Teich! In seinem alten Tümpel hatte es schlimmer ausgesehen: Da hatten sie ihn verjagt. Nicht nur das, sie hatten alle anderen Wasserläufer getötet, als er geschlüpft war. Er konnte gerade noch fliehen - aber auch erst, als er die drei Wasserspinnen abgewimmelt hatte, die ihm Geschenke brachten und behaupteten, sie wären einem brennenden Glühwürmchen gefolgt.
Aber hier? Er war am Morgen seiner Ankunft völlig außer Atem übers Wasser getorkelt. Wenig später hatte er Jünger, Anhänger und Todfeinde. Ab und zu vollbrachte er ein Wunder, aber – bitte - das war kein Problem. Gewann der Karpfen, ließ er den Karpfen beten. Gewann der Hecht, ließ er den Hecht beten. Alles eine Frage der Perspektive. Nun lief er jeden Morgen über den Teich und wurde darin zunehmend graziöser. Sonntags hielt er eine Predigt.
Er ging ans Ufer und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm. Und er tat seine Mandibeln auf, lehrte sie und sprach: „Selig sind, die da Schuppen tragen, denn sie werden gewaschen werden. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Teich und Pfütze verdampfen, wird nicht verdampfen der kleinste See noch ein Tümpelchen mit Schilf, bis es … äh … alles vertrocknet.“ So sprach er, und so sollte es geschehen.
Der Wasserläufer grinst weiter und blickt sich um. Eine Kröte ist in Ohnmacht gefallen. Zwei Enten starren ihn aus glänzenden Augen an. „Wo soll das nur alles hinführen“, denkt er. Die Gewissheit, so könne es nicht ewig weitergehen, kann er beinahe fühlen. „Eines Tages bringen sie mich noch ans Kreuz ...“
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08.12.2004 00:25
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Ramujan
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Das Tagpfauenauge
Hinter der siebten Klappe des Entomologischen Adventskalenders befindet sich: Der Schmetterling ( Lepidoptera).
„Schlampe!“ Die Stimme klingt wie Flügelschlagen. „Selbst biste `ne Schlampe, du Pissbrutze.“ Die Worte reiben gegeneinander wie trockene Ahornblätter im Herbst. „Guck dich an“, meldet sich die erste Stimme zurück. „Guck dich doch an: Rüssel wie’n Drecksschwein und bleich biste dazu, als ob du’s letzte Luder wärst.“ „Saug Nesselnektar.“
Wir befinden uns im Gewächshaus von Herrn Doktor Kahmel. Neben einer stattlichen Anzahl von Kakteen der südlichen Hemisphäre, zahlreichen Orchideen und verschiedenen Brennnesselkulturen besitzt Herr Doktor Kahmel die größte Schmetterlingssammlung seines Landkreises. Die meisten Exemplare werden von einer Präpariernadel auf ein Stück Kork gedrückt und auch den Lebenden erwartet das Schicksal der Mumifizierung nach einem erfüllten Flatterleben.
Doch es soll hier nicht um Tod, Staub und Verwesung gehen. Im Gewächshaus des Herrn Doktor Kahmel zelebriert man sich gerade selbst, freut sich des Lebens und feiert die Schönheit: Der Admiral, immerhin der dienstälteste unter dem Plexiglas-Dach und der Kirschholzvitrine am nächsten, hat eine Miss-Wahl ausgerufen, „zum Finden, Ehren und Anbeten des schönsten unter uns Schönen. Ich wünsche einen fairen, äh …“ Der schwarze und rot gepunktete Waldteufel flüstert ihm etwas zu. „Ich wünsche einen spannenden Kampf. Er soll beginnen.“
Die nächsten Tage im Gewächshaus sind geprägt von Harmonie, Zuneigung und gegenseitigem Verständnis. Friede und Einigkeit legt sich auf Sukkulente und Blütenblatt wie Raureif auf eine Kinderleiche. „Das ist mein Platz“, behauptet der Zitronenfalter und versucht den Kleinen Kohlweißling vom kugelförmigen Kaktus zu verscheuen. „Hier kannst du nicht sitzen.“ Der Zitronenfalter findet, dass das fleischige Grün des Stachelgewächses gar ausgezeichnet mit dem Gelb seiner Flügel harmoniert; ein Bild für die Ewigkeit, die Grazie und das Stachlige - in diesem Gemälde hat der Konkurrent, diese Geschmacksverwirrung mit der Farbe von vergilbten Gardinen, nichts zu suchen.
„Fettpupille“, beschimpft der Seidenspinner das Tagpfauenauge, das nicht nur der heißeste Anwärter aufs Siegertreppchen ist, sondern sich des Nachts auch äußerst geschickt im Mondlicht positioniert. Das Schachbrett hat sich auf einem Schachbrett niedergelassen und weigert sich, den Platz freizumachen, der Dunkle Wiesenknopf-Ameisenbläuling lernt seinen Namen korrekt auszusprechen, um bei der Preisverleihung nicht wie ein Trottel dazustehen und der Admiral ist bemüht, den Überblick zu bewahren. Schließlich lädt er zur Versammlung.
„Ihr Schönen“, ruft er und blickt auf ein Potpourrie aus eingerissenen Fühlern, verknoteten Rüsseln und zerknitterten Flügeln. Uhha! Die Schmetterlinge haben ihrem Namen alle Ehre gemacht: Ein Exemplar hinkt, weitere vermögen nicht mehr zu fliegen und der Zitronenfalter redet in einer einzigen, andauernden Litanei von einem Rezept für Zitronensuppe, welches er einst als Raupe aufgeschnappt haben will.
„Wir können, äh, abstimmen“, sagt der Admiral und sammelt die Stimmzettel - eingekerbte Brennnesselblätter - ein. Er selbst enthält sich, was ihn im Nachhinein schon etwas ärgert, andernfalls hätte er wohl das peinliche Remis verhindern können. Jeder Schmetterling verbucht eine Stimme! Er zählt ein weiteres Mal aus, in der Hoffnung, etwas Wesentliches übersehen zu haben. Nichts! Dann dreht er sich zum Plenum, betrachtet prüfend seine invaliden Artgenossen und lächelt verschmitzt. „Ja“, fragt er sich in Gedanken, „warum sollte ich mich eigentlich nicht selbst zum Sieger ausrufen.“ Stolz richtet er sich auf und erhebt die Stimme.
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09.12.2004 20:20
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_TylerDurden_
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Zitat: Ramujan schrieb:
...der Kirschholzvitrine am nächsten
Das ist die schönste Metapher die ich diese Woche gehört habe.
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10.12.2004 11:09
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pfeifenkrautler
Honk
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Der ist übrigens wahnsinnig toll, der entomologische Adventskalender 
(mit Betonung auf wahnsinnig)
Bitte mehr!
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Held ohne nennenswerte Kenntnisse
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10.12.2004 11:15
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Mike Hat
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Ja, wann öffnet sich endlich die nächste Klappe?
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12.12.2004 01:56
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Ramujan
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Ich liege etwas zurück. Das ist aber nicht so schlimm - notfalls verschiebt sich Weihnachten halt etwas nach hinten.
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12.12.2004 01:59
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Ramujan
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Hinter der achten (und auch hinter der neunten, zehnten und elften) Klappe des Entomologischen Adventskalenders befindet sich: Die Libelle (Odonata).
Mittagszeit: Die sengende Hitze verwandelt den Schrottplatz in einen Glutofen. Die Luft schwirrt zwischen VWs mit weggerissenen Motorhauben und verkeilten Traktoren, zwischen einer Baggerschaufel und in den rissigen Boden vergrabenen Felgen. Rost sprengt Karossen; ein dichtes Adernetz durchzieht die verbliebenen Windschutzscheiben; die Sonne saugt an Batteriesäure und Ölfässern. Ein Pickup verliert sein Gekröse in Form von Getriebe, Kolben und Strippengewirr. Auf dem Reifenberg an der Westseite tanken Eidechsen gierig die Wärme; Disteln, Löwenzahn und Spitzwegerich haben ihr Zuhause gefunden, hier, zwischen den Überresten einstmaliger Geschwindigkeitsrennen und stillen Zeugen vergessener Sonntagsspazierfahrten mit schlimmen Ausgang. Neben Mercedesschrott hält ein Stechginsterstrauch Totenwache.
Nicht unweit des Schrottplatzes liegt der Dorfweiher. Dessen Wasserspiegel ist erschreckend gering, Seerosen verbreiten einen Fäulnisgestank und Algen stehen in den Startlöchern, die Macht zu übernehmen. Es ist still. Still? Nein, nicht ganz. Etwas bewegt sich im Grün. Eine Blüte vielleicht, durch einen bizarren Zauber zum Leben erweckt? Ein Kopf kommt zum Vorschein, schließlich ein Hals, feuchte Flügel breiten sich aus. Es ist eine Libelle, die ihrer Kinderstube entschlüpft und die Puppe hinter sich lässt. „Endlich erwachsen!“ denkt sie, und dann, noch euphorischer: „Party.“
Nix Party. Als sie sich umblickt, noch erschöpft vom Schlüpfen, das anstrengende Larvensein im schlammigen Nass nur allzu gut in Erinnerung, sieht sie in die konvexen, strengen Augen einer Flussjungfer - einer Lehrerin, wie sie sofort erkennt. Der Verdacht bestätigt sich, als die Flussjungfer der Junglibelle mit einem Wink andeutet, sie solle ihr bitte folgen.
Es geht zum Schrottplatz; das Ziel ist eine Hutablage, die wie eine Ziehharmonika gewellt ist und sich inmitten eines Knäuels aus braunrotem Blech, Disteln und Brennnesseln befindet. Die Schüler, die sich dort schon eingefunden haben, sind nervös. Eine kleine Libelle mit einem Knick im Thorax scheint besonders aufgeregt. Sie hüpft von einer Seite zur anderen, schreit dabei unentwegt: „’ss geht los! Los! Los!“ und obendrein hat sie als einzige auch noch eine Schultüte, aus der fortwährend Fliegenflügel und Spinnenbeinchen sausen. Die anderen in der Klasse achten tunlichst darauf, ihr nicht zu nahe zu kommen.
Die Lehrerin klettert auf den Verbandskasten, der bis auf einen über den Rand gerollten Mullbindenfetzen leer ist. Sie spitzt ihre Mundwerkzeuge und blickt drein wie die Strenge persönlich. Dann räuspert sie sich und beginnt mit dem Unterricht.
In den ersten drei Stunden haben sie Allgemeine Flugkunde, dann jeweils eine Stunde Vorwärtsfliegen, Seitwärtsfliegen und Rückwärtsfliegen.
Die frisch geschlüpfte Junglibelle hätte im Traum nicht daran gedacht, dass Fliegen so schwer ist. Natürlich kann sie ihre Flügel bewegen, sie vermag sich in der Luft zu halten und weiß, wie sie von A nach B kommt. Aber da ist auch nichts bei, so etwas kann jeder. Nein, kompliziert wird die Sache erst, wenn es darum geht, Figuren ins Nichts zu malen, beim Kreisen die Orientierung nicht zu verlieren, Schattentiere zu projizieren. Gerade jetzt versucht sie auf der Stelle zu fliegen. Die aufmerksamen Augen der Pädagogin blicken in ihre Richtung, während sie krampfhaft bemüht ist, einen Punkt am Horizont zu fixieren, sich voll zu konzentrieren. Sie schwebt. Sie wackelt. Schwups – sie hat die Position verändert. „Etwas mehr Haltung, bitte“, kommt flugs die Kritik der Lehrerin.
Sie lernt Kraulfliegen, Brustfliegen, den Freien Fall, den Flirrenden Pfeil und eine ganze Menge anderer Stile. Bald kann sie auf dem Rücken fliegen. Mit nur einem Flügel. Mit geschlossenen Augen. Im Schlaf. Beim Essen. Den Windschatten einer anderen Libelle ausnutzen. Sie kann sogar, wenn sie ordentlich Schwung nimmt, Spinnennetze durchstoßen.
Am besten ist die Junglibelle in den Fächern Rückwärtsfliegen und Nach-Unten-Fliegen. Seitwärtsfliegen beherrscht sie nicht so gut, da fliegt sie eher diagonal; und auch im theoretischen Teil könnte es besser laufen – warum sie die verschiedenen Takte auswendig lernen soll, in denen es sich besonders elegant mit den Flügeln schlagen lässt, begreift sie nicht, und die Auswirkungen von Temperaturschwankungen auf Luftströmungen sind nun wirklich das allerlangweiligste.
Schon bald sind Prüfungen: Die Lehrerin gibt sich freundlicher, was bedeutet, dass sie nicht mehr so furchteinflössend dreinschaut und regelmäßig „Guten Tag“ sagt; die Klasse dagegen wird zunehmend alberner, um die seltsamen Gefühle zu kaschieren, diese Mischung aus kalter Furcht vor den zu bestehenden Aufgaben und der hellen Vorfreude angesichts der ganzen freien Zeit danach.
Um es nicht so spannend zu machen: Unsere Junglibelle schneidet gut ab. Statt eines Kreises fliegt sie eine Ellipse und die Hälfte der wichtigsten und deutlichsten Vorboten eines Sommergewitters hat sie auch vergessen, aber das gleicht sie mit dem besonders elegant ausgeführten Doppelten Sturzflug wieder aus. Den Punktabzug im Synchronfliegen kann sie verschmerzen, da diese Aufgabe ohnehin nicht durch Praxisnähe besticht.
„Endlich erwachsen!“ denkt sie, als sie ihr Zeugnis in den Händen hält. „Endlich erwachsen.“ Und dann, noch euphorischer: „Party.“
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12.12.2004 18:47
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pfeifenkrautler
Honk
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"Libelle" wurde kürzlich von einer Kinderjury zum schönsten deutschen Wort gekürt.
*grad mal einfall*
Der zehnjährige Sylwan Wiese mag es so, "weil ich Wörter mit dem Buchstaben 'l' liebe und dieses Wort sogar drei davon hat. Das Wort lässt sich irgendwie so leicht sprechen. Das flutscht so auf der Zunge. Aber ich finde auch, dass Libellen so schön flattern, und genau das erkennt man auch in dem Wort. Das Wort macht, dass man diese Tiere von Anfang an mag und keine Angst vor ihnen hat. Würde das Tier 'Wutzelkrump' oder so heißen, dann wäre das nicht so."
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Held ohne nennenswerte Kenntnisse
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